Samstag, 4. Juni 2011

Reaktion

In den Tagen nach diesem Sonntag fuhren meine Gefühle und Gedanken Achterbahn. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an bösartige Tumore im Auge und in weiteren Organen. Nachts konnte ich nicht mehr schlafen. Ich hatte keinen Appetit mehr, der Nacken und die Schultern schmerzten und mein ohnehin hoher Blutdruck machte mir Sorgen. Ich fühlte mich elend und sollte dabei doch in Harmonie mit dem Jetzt sein und alles annehmen. Es gelang mir nicht.

Ich habe mein Auge zurück und jetzt will ich mein Leben zurück. Ich bin mit dem Ergebnis der OP sehr zufrieden. Mein Auge wird jeden Tag besser in Aussehen und Empfinden. Die Wunde ist bis auf 10% geschlossen, war am Sonntag festgestellt worden. Es besteht nur noch eine kleine, längliche Schwellung oder Vernarbung im Nasenwinkel, aber dies wird von Tag zu Tag kleiner und heller. Ich will wieder beide Augen werfen können auf die Landesschönheiten, äh die Schönheiten des Landes und seine Bewohner, ohne an Krebs, Krankheit und Behandlung denken zu müssen.

Am Montag schrieb ich Dr. Usanee eine Mail. Ich legte ihr meine Gefühle dar, meine Ansicht über den Report und die Diagnose und die Gründe, warum ich nicht an ein Melanom glaube. Dass ich keinen Sinn in der Kryo sehe und nur weitere Schäden an dem genesenden Auge befürchte. Ich bat sie, den Termin abzusagen und mir einen Beratungstermin in zwei Wochen bei ihr zu geben. Die weiteren Tests an mir hätten ja keine negativen Befunde ergeben und selbst wenn der Tumor am Auge bösartig wäre, eine Rückkehr könne wohl auch mit Kryo nicht ausgeschlossen werden. Ich drückte ihr mein Vertrauen aus.

Ich musste bis Mittwoch Nachmittag auf Antwort warten. Wir kamen gerade vom Einkaufen im Seacon und Essen im Fuji im Paradise Park zurück. Sie ging nicht ausdrücklich auf meine Mail ein, sondern bestätigte den Report. Es sei ein bösartiges Melanom und sie empfahl die Kryo. Sie würde mich aber gerne am Sonntag sehen, um die weitere Behandlung zu besprechen. Sie fügte einen Link bei, wo ich Bilder von Augentumoren anschauen konnte. Nur leider passt kein Bild zu meinem Fall.

In meiner umgehenden Antwort sagte ich ihr, dass ich für die Kryo noch nicht bereit sei, aber gerne am Sonntag kommen würde. Ich bat sie nochmals den Termin abzusagen. Ich schilderte ihr meine Gefühle, wie krank und depressiv es mich macht, ständig an Krebs zu denken und Bilder von Tumoren und Videos von Augenoperationen zu sehen. Dr.Wasee war in die Korrespondenz über Email-Kopie mit eingebunden.

Die Nachbarn und alle, mit denen meine Frau gesprochen hat - und Thais können ausführlich jedes kleinste Detail über einen anderen weiter erzählen -, raten, die Kryo durchzuführen. Aber die können leicht reden.
Am Abend kam mir ein neuer Gedanke und ich schrieb eine dritte Mail. Falls sie mir garantieren könne, dass bei der Kryo kein gesundes Gewebe zerstört werden würde und keine Schäden zurück bleiben und alle evtl. vorhandenen Tumorzellen abgetötet würden, und sie mir gleichzeitig versichern oder Methoden zur Sicherstellung aufzeigen könne, dass keine Streuungen vorhanden sind, so wäre ich mit dem Termin am Sonntag morgen einverstanden. Dafür müsste ich aber am Freitag oder Samstag mit ihr oder Dr. Wasee sprechen.

In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Ein mitternächtliches Besäufnis half auch nicht. Um 4 Uhr heute früh schrieb ich eine weitere Mail. Der Report rät doch zu einer immunohistochemischen Untersuchung. Diese dient u.a. nach meiner Reserche zur „Klassierung und Diagnose von wenig differenzierten malignen Tumoren und zur Identifikation der Lokalisation des Primärtumors beim Vorliegen einer Metastase.“ Ich bat Dr. Usanee, diesen Test zu veranlassen. Ich wolle das Ganze möglichst schnell hinter mich bringen, aber ohne einen Rest von Zweifel oder ein schlechtes Gefühl und unnötigem Geldeinsatz.

Ich kehrte nicht ins Bett zurück, sondern blieb am Notebook sitzen und schrieb die Geschichte nieder. Damit hatte ich wenigstens etwas Beschäftigung gefunden. Zeitgefühl und Müdigkeit waren nicht vorhanden.


Freitag

Letzte Nacht schlief ich so gut wie schon lange nicht mehr. Ich habe mein Leben wieder zurück und meinen Frieden. In den vergangenen vier Tagen machte ich wohl alle Phasen durch, die oft bei Todkranken zu beobachten sind. Von Unglauben und Ablehnung über Aufbegehren und Anklagen hin zu Resignation und Annehmen. Nur habe ich nicht gefragt: warum gerade ich? und ich habe niemandem eine Schuld gegeben. Diese Emotionen kommen auch in den fünf Emails zum Ausdruck, die ich an die beiden Ärztinnen geschrieben habe. Zunächst die Ablehnung von Diagnose und Kryo, dann Ausdruck von Hoffnung und Auswegsuchen und schließlich das Eingestehen, dass ich mit allem einverstanden sei. In meiner vorletzten Email gestern Abend schrieb ich, dass es mir nun gleichgültig sei, ob die Kryo gleich am Sonntag stattfindet oder ob ich vorher nochmal in die Sprechstunde komme. Im Schreiben zuvor, das ich nachts um vier Uhr absandte, wies ich sie wie schon geschildert darauf hin, dass der pathologische Bericht in seiner letzten Zeile darum gebeten hatte, eine immunohistochemische Untersuchung (IHC) zur endgültigen Diagnose zu verlangen. Ich hatte gelesen, dass dadurch u.a. die richtige Art des Tumors erkannt und klassifiziert werden kann und festgestellt wird, ob er primär ist oder von welchem anderen Organ er ausgeht. Ich betonte, dass es mein Wille sei, dass alles zu einem schnellen und guten Ende kommen möge, ohne den Rest von Zweifel oder einem unguten Gefühl oder unnötigem Geldeinsatz.

Im Laufe des gestrigen Tages wurde ich langsam ruhiger. Obwohl ich weiterhin eifrig im Netz forschte, versuchten wir beide die gewohnte Routine und Kommunikation zu bewahren. Meine Frau arbeitete wie immer ohne Pause in Küche und Garten und bügelte die Wäsche, während ich versuchte mir keine weiteren Sorgen zu machen und meinen Gleichmut zu finden. Mit wenig Mühe konnte ich wieder lachen und mich über Dinge freuen, wie z.B. die Taube, die in einem unserer Bäume Nachwuchs bekommen hat. Obwohl ich viele Stunden nicht geschlafen hatte, verspürte keine Müdigkeit, nur eine Leere, und ich hatte kaum Hunger und keinen Appetit. Das Mittagessen, Schweinebraten mit Spätzle und Salat, kam mir zum Ende fast wieder hoch. Die Stunden vergingen jedoch rasch. Ungeduldig wartete ich auf Nachricht von Dr. Usanee, auf ihre Entscheidung: Kryo oder Sprechstunde am Sonntag.

Die Email der beiden Ärztinnen machte mich glücklich. Sie wollten mir beim Treffen am Sonntag ebenfalls vorschlagen, die IHC zu veranlassen. Die Tests würden 2-3 Tage dauern und 2000 Baht kosten. So könnte dann der spezifische Typ der Tumorzellen identifiziert werden. Ich solle am Sonntag in ihr Büro kommen, nicht zur chirurgischen Behandlung, sondern zur Kontrolle der Wunde und zum Besprechen eines Therapieplanes. Sie drückten ihr Verständnis und ihr Mitgefühl darüber aus, wie diese unglückliche Sache mein Leben beeinflusst hat. Bemerkenswert und ein Zeichen von Vertrautheit ist, dass sie in ihrer Anrede das Mister weggelassen haben und mich nur mir dem Vornahmen anschrieben.

Ich bedankte mich überschwänglich und werde nun am Sonntag ohne Ängste ins Chula gehen. Bösartiges Melanom? Sicher nicht! Jetzt schmeckten auch die Kirschen wieder und die Trauben zum Emmentaler. Das Auge sieht an der befallenen Stelle aus wie früher. Nur im Winkel ist eine Art Narbe, die aber täglich heller und kleiner wird. Ob sie ganz verschwindet oder beobachtet werden muss, ob sie ein kosmetischer Fall ist oder entfernt werden sollte, werde ich erfahren. Ich wäre auch mit der Kryo einverstanden, falls sie medizinisch notwendig ist.

Jede Krankheit oder Extremsituation ist auch eine Chance und ein Lehrstück. Seit meiner Jugend habe ich mein Leben auf ein Ziel hin ausgerichtet. Die Überzeugung, dass wir im Innersten eins mit Gott sind, hat mich nach der Schule nach Indien geführt und bestimmt auch jetzt mein Leben. Es geht nicht um Dogmen und Meinungen, sondern einzig um Erfahrungen, die nach und nach verwandeln. In der Woche nach dem Eingriff hatte ich Empfindungen von völligem Loslassen. Oder ich fühlte mich in ein reines, helles Gewandt gekleidet, so wie wir es nach dem Tod oder vielleicht bei der Umgestaltung der Erde tragen werden. Noch am Sonntag im Wartesaal spürte ich so etwas wie die Dämmerung Gottes. Gestern freute ich mich auf das Leben nach diesem Leben. Und nach den dunklen Stunden der letzten Tage fühle ich eine noch stärkere Losgelöstheit. Bei allem Bleiben in der Gegenwart klebe ich nicht an ihr.

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