Sonntag, 12. Juni 2011

Die Kryo

Einer geht noch. Allen gewidmet, die das Positive an dem Geschehen sehen können.

Natürlich waren sie wieder zu früh. Sie holten sich einen Kaffee aus dem kleinen Seven, und als sie um 7 Uhr die Anmeldung abgaben, sagte die Empfangsschwester, sie könnten noch was essen gehen, die Ärztin komme erst um acht. So überquerten sie die Henry Dunant Road und setzten sich an eine Garküche. D. bestellte Wantan-Suppe und Reis mit eingelegter Schweinshaxe. H. konnte nichts essen. Er isst nun sehr viel weniger. Oft hat er nach einem Bissen schon genug. Sein Gewicht und sein Bauch haben bereits abgenommen. Er schläft auch viel besser, kann nach Unterbrechungen gleich wieder einschlafen und sein gewohnter Mittagsschlaf ist nur noch ein kurzes Ruhen.

Als sie zu dem Gebäudekomplex der medizinischen Fakultät der Chulalongkorn Universität zurück gingen, bemerkte H., dass er seine Tasche vergessen hatte. Bevor er jedoch zurück laufen konnte, brachte ein Junge von der Garküche die Tasche mit dem Moped.

Die CD mit den Augenaufnahmen von der Spaltlampe wurde ihnen nun ausgehändigt. Vor dem Einlass in die inneren Bereiche, musste H. eine Blanko-Erklärung unterschreiben, dass er über die Behandlung und ihre Risiken informiert worden sei und dem Arzt alle Vollmacht und Regressfreiheit zubillige. Seine Schuhe musste er zu denen der anderen Patienten auf die eine Seite des Regals stellen, wo sie mit einem Zettel versehen wurden, und dann in Schlappen schlüpfen. Da er auf die Toilette musste, durfte er sich dort umziehen. Wieder kämpfte er mit den vielen Schleifen des hellblauen Patientenhemdchens. Er weigerte sich wie verlangt die Brille abzulegen. Er könne sonst nichts sehen, sagte er. So konnte er die hagere Schwester vom letzten Mal besser in Augenschein nehmen, die ihn empfing und Gesicht und Hände waschen ließ. Und er konnte Dr.Wasee besser in die Augen sehen, als diese sich einen Stuhl holte und sich zu ihm setzte.

Sie fragte, wie er sich fühle. H. hatte sich vorgenommen, ganz ruhig zu sein. Allerdings war sein Blutruck auf hundert achtzig, genau gesagt auf 187/95. Dr.Wasee erklärte, dass er gleich dran käme, sie alles vorbereiten ließe und es in etwa 20 Minuten vorbei sein werde. Sie entschuldigte sich nochmals für den Systemfehler bei der Anforderung der IHC. Sie könne ihn und seine Gefühle gut verstehen und sei ja durch die Emailkopien über alle seine Gedanken informiert. Er habe sich wirklich ausführlich mit dem Thema befasst. Auf die Frage nach dem Ergebnis der Einfärbung meinte sie nur, sie werde sie ihm anschließend mitgeben. H. erklärte etwas erregt, dass nach der Kryo er für keine weiteren Untersuchungen und Therapien mehr zur Verfügung stehe und dass er im Grunde keinen Beweis für die Diagnose fände. Die Ärztin antwortete nur, sie habe das Gewebestück selbst gesehen. Ob ihn denn Dr.Usanee nicht angerufen hätte. Eigentlich wollte sie bei der Kryo dabei sein, aber sie hätte kurzfristig heute morgen zu einem Vortrag nach Pattaya abreisen müssen. Er fragte noch, ob sie auch die kleine Narbe wegeisen würde. Nein, diese würde von selbst verschwinden.

Sie gab ihm selbst noch einige Betäubungstropfen ins Auge, wie die schlanke Schwester schon zuvor. Die beiden beugten sich dann am Schreibtisch über seine Akte. Als es um die Medikation ging, brachte H. vor, dass er Paracetamol wie auch Tropfen und Tränen noch zu hause hätte. Neugierig geworden, worüber die Beiden lachten, ging er selbst zum Schreibtisch. Sie hätten sich gerade bemüht, die Schrift zu entziffern. Er erkannte den handschriftlichen Eintrag: malignant melanoma. Es erschien ihm zwar wie eine Aufzählung unter a) - in Extremsituationen wie dieser, wo man gezwungen ist, ganz aufmerksam zu sein, sieht man dennoch nur ausschnitthaft -, aber er deutet darauf und sagte ein wenig laut, dass er daran nicht glaube. Dr.Wasee erklärte, er solle ruhig bleiben (Don´t stress yourself!), ein hoher Blutdruck sei nicht gut für den Verlauf der Behandlung. Während er vor ihr stand, rutschte ihm die Pyjamahose auf die Knie herunter. Die Ärztin selbst führte ihn zum Sofa und wollte ihm die Schleife wieder binden, was aber dann die Schwester übernahm.

Ein Telefon wurde ihm gebracht. Dr.Usanee entschuldigte sich für ihr Fernbleiben und die Unannehmlichkeiten mit dem Anforderungsformular. Anscheinend seien die Formulare geändert worden. Ihre Assistentin würde bei der Kryo dabei sein. H. fragte nach einer Abschrift der Einfärbungsergebnisse und nach deren Abbildungen, sowie nach einem Foto, das die pathologische Aufbereitung unter dem Mikroskop zeige. Sie werde sehen, was sich machen lässt, zum Teil müssten die Fotos gesondert angefordert werden. Jedenfalls könne er sich immer mit allen Fragen an sie per Email wenden. An der Richtigkeit der Diagnose ließ sie keinen Zweifel. Und sie habe sich überzeugt, dass die Gewebeprobe nicht vertauscht worden sei, wie er in seiner letzten Email angedeutet hatte.

Das Engagement der beiden Ärztinnen geht weit über die professionelle Aufgabe und Distanz hinaus. Aber gerade diese einhüllende, mütterliche Fürsorge schmerzt H. Aus ihren Blicken und Worten, den Reaktionen und Handlungen, auch denen im Verborgenen oder als Vorbereitung, liest er ihr Mitleid und ihr Wissen um eine dunkle Zukunft, die sie für ihn klar zu sehen scheinen. Es wäre Energieverschwendung dagegen anzukämpfen und er hat die Kraft auch nicht mehr. Das Beste wird sein, zu schweigen und den Kontakt auf Kontrolluntersuchungen des Auges zu beschränken.

Im OP-Saal erwartete ihn eine bequeme Liege, auf der er gut Arme und Hände auflegen konnte. Daneben stand ein großer Gaszylinder. Die schlanke Schwester führte und betreute ihn selbst. Die Hose musste sie ihm dabei nochmal binden. Laufend bekam er betäubende Tropfen, zuletzt auch ins rechte Auge. Er wurde steril zugedeckt und Licht und Mikroskop wurden über dem linken Auge eingestellt. Das rechte wurde zugeklebt und sein Gesicht mit der braunen Desinfektionslösung gründlich abgerieben. Eine Schwester fragte nochmals nach Vor- und Nachnamen und nach der zu behandelnden Augenseite, dann wurde ein Tuch über ihn gebreitet, das nur das linke Auge frei ließ. Das Einsetzen des Spreizers gelang im zweiten Anlauf.

Das wiederholte Vereisen und Auftauen war kaum als kleine Stiche zu spüren, schmerzlos und weniger brennend als das Desinfizieren der Lider zuvor. Die Atmosphäre war entspannt und die Schwestern fanden es beruhigend, dass zumindest ihre Aufforderungen in Thai von dem Ausländer verstanden wurden. Schnell war es vorüber, das Gesicht wurde wieder abgewaschen und das Auge zugeklebt. In zwei Stunden, also um elf solle er den Verband entfernen und mit den antibiotischen Augentropfen beginnen. Das Auge sei nun irritiert und werde ein paar Tage gerötet bleiben. Duschen sei möglich. Seine Frau erhielt draußen die selben Anweisungen. Es ist möglich, dass Dr.Wasee versucht hatte, sie zu treffen.

Etwas erschöpft ließ H. sich mit dem Rollstuhl zum Umkleiden fahren. Bevor er die Räume verließ, wollten die Schwestern ihn noch drängen, zwei Paracetamol zu nehmen. Der Heimweg sei lang. Aber er hatte gar keine Schmerzen, weder bei der Kryo noch in den Stunden danach.

D. war bereits mit den anderen, zahlreich wartenden Angehörigen an der Kasse gewesen. Mit Verwunderung hatte sie gesehen, dass diese zum Teil Beträge von dreißig-, fünfzigtausend und mehr zu begleichen hatten. Ungläubig zahlte sie ihre Rechnung: 1600 Baht für die Kryotherapie selbst und 1500 für den Arzt, zusammen etwa 72 Euro. Dabei war im Vorgespräch und auf der Anmeldung der Betrag von mindestens zehntausend genannt worden. Ein Versehen oder unglaubliche Milde und Mitleid der Ärztinnen?

H. konnte trotz des Verbandes seine Brille aufsetzen. Er war müde. Sie mussten jedoch noch auf den Terminzettel warten. Am Sonntag, den 19. werden sie beide Ärztinnen wieder sehen. H. fragte noch nach dem Befund, aber diesen würde ihm Dr.Wasee in der Sprechstunde geben, hieß es. Es war ihm gleichgültig. Er würde bis dahin auch nicht in Emailkontakt treten. Selbst wenn keine Fehldiagnose vorliegt – an einen absichtlich untergeschobenen Befund glaubt er nicht - , mit der Entfernung und der anschließenden Kryotherapie ist der Tumor, gutartig oder nicht, beseitigt. Dr.Usanee wird eine Ultraschalluntersuchung der Lymphknoten des Nackens und des Halses vorschlagen. H. hat sich vorgenommen, ihr schweigend zuzuhören.

Die Fahrt mit dem neuen Taxi, das sie von der Türe weg nehmen konnten, war angenehm. Es lief eine CD mit den gleichen Songs, die sie vor 36 Jahren immer auf einem Kassettengerät zu hören pflegten, und die Texte waren für H. wie eine gute Botschaft. Zu hause musste er sich ausruhen, seine Gattin fuhr alleine auf den Markt nach Minburi. Als er später den Verband abnahm, sah er seinen zur Hälfte rot-verschwollenen Augapfel wieder. Er fühlte sich lediglich etwas gereizt an. Von dem Kartoffelsalat und dem Thunfisch konnte er nur eine Gabel voll zu sich nehmen. Jemand hat mal in einem Vortrag gesagt, der Mensch könne von einer Schale Reis am Tag leben, zwei wären zuviel.

2 Kommentare:

christine hat gesagt…

Hi, sehr guter Artikel, hat mir spass gemacht diesen hier zu lesen. Ich kann nicht sagen ob es ein Versehen oder unglaubliche Milde und Mitleid der Ärztinnen war, aber freu dich doch darüber das es so geschehen ist :-)

Khun Han hat gesagt…

Danke, Chistine! Dein Kommentar wirkt wunderbar aufbauend. Ein kleines Rettungsfloß in einem Meer von Traurigkeit. Ob es ein Versehen war, wird sich beim Termin am Sonntag herausstellen, obwohl nicht geplant ist, es direkt anzusprechen. Der Bericht wird am Montag fortgesetzt.