Montag, 20. Juni 2011

Zurück

So, das war´s. Ich habe mein Leben wieder. Und das neue ist schöner als das alte. Nicht dass die Tests ergeben hätten, es ist gar kein malignes Melanom. Ganz im Gegenteil. Aber lasst mich der Reihe nach berichten.

Die Erregung in der Nacht und vor der Sprechstunde hielt sich in Grenzen. Ich fühlte Gottes Nähe und Hilfe. Der Impuls auf der Fahrt und in der Klinik war: es geht nicht um den Körper. Später wurde mir auch bewusst, wie widersinnig es ist, an die Transformation der Erde und ihren Aufstieg in eine höhere Dimension zu glauben und sich dabei Sorgen um den materiellen Körper zu machen.

Es waren etwa 60 Personen im inneren Wartebereich, die Hälfte wohl Begleitpersonen, aber wir hatten den Eindruck, dass wir vorgezogen wurden. Wenn ich auch der einzige Ausländer war, so fühlte ich mich stets in gleicher Weise behandelt wie jeder andere Patient auch. Man ist dennoch etwas wie ein bunter Hund und das Personal tut sich nicht einfach, den Namen zu nennen oder sich in Englisch auszudrücken. Die unvermeidlichen Tests zu Beginn dienen in erster Linie als Einnahmequelle. Obwohl ich mich bemühte, still zu halten und nicht zu zucken, als die Luftstöße auftrafen, lagen die Augendruckwerte bei 26 bis 30 mmHg. Dr.Usanee maß dann selbst mit ihrem Tonometer nach und der Wert ergab gute 18. Wir waren nach kurzer Wartezeit zu ihr gerufen worden, wenngleich wir zuerst vor Dr.Wasee´s Zimmer warten sollten.

Dr.Usanee fragte viermal: How are you today?, aber mehr als: It´s okay! bekam sie nicht zur Antwort. Sie überreichte uns gleich eine CD mit den Fotos aus der Pathologie und die „offiziellen“ Befunde aus der Histologie und der Immunhistochemie. Ich hatte ihr zwei Tage nach der Kryo eine harsche Email geschrieben, in der ich verlangte, dass bei einer solchen Diagnose Arzt und Patient auf dem selben Informationsstand sein müssen. Bis jetzt hätte ich keinen schlüssigen Beweis. Diesen mit englischen Fachwörtern gespickte Befund hätte jeder Student aus dem Lehrbuch abschreiben können und jeder Lehrer würde ihn bestätigen, um ihn nicht zu blamieren. Was mir fehlt, sind die Aufnahmen unter dem Mikroskop, die dann auch ein anderer Pathologe begutachten kann. Ich zahlte für das Röntgen, schrieb ich, und bekam ein großes Bild, ich bezahlte für die Ultraschall und bekam einige Aufnahmen, ich bezahlte für die histologische Untersuchung und erhielt einen lausigen Befund. Ich bezahlte 2040 Baht für die Einfärbung und erwarte nun aussagefähige Bilder, denn für 100 Baht könne jeder schreiben, die Reaktionen wären positiv oder negativ. Schon der gesunde Menschenverstand hätte da Zweifel. Ich appellierte auch an den Ruf der Klinik.

Dr.Usanee kommentierte die übergebenen Berichte nicht weiter. Sie erschien überhaupt zurückhaltender und sprach fast mehr in Thai als in Englisch. Sie fuhr wie erwartet in ihrem Programm fort. Eine Biopsie von Lymphknoten sei zu diesem Zeitpunkt zu risikoreich, sie möchte jedoch einen Termin für eine Ultraschalluntersuchung derselben im Halsbereich machen. Ich sprach mich dagegen aus. Sollte sich dabei eine Auffälligkeit finden, ginge die Sache weiter, und wenn man nichts findet, wird man sagen, es kann noch was kommen. Ihre Antwort war etwas diffus: wenn man jetzt die Untersuchung nicht mache, habe man keinen Vergleichspunkt, wenn man später etwas feststellt. Sie würde auch nur die Empfehlung dazu geben. Meine Frau und ich sprachen uns kurz ab und stimmten dann schließlich dieser als der letzten Maßnahme zu. Gegen einen Kontrolltermin in vier Wochen hatten wir sowieso nichts einzuwenden. Dr.Usanee hatte sich das Auge angesehen und eine „inflammation“ festgestellt, eine Reaktion wie bei einer Entzündung. Sie empfahl, die künstlichen Tränen weiterhin alle zwei Stunden zu nehmen und würde evtl. andere Augentropfen verschreiben. Aber das und die Überweisung zur Ultraschall überließ sie ihrer Kollegin. Ich bat sie noch, das rechte Auge zu überprüfen, doch hier war alles normal, auch die Äderchen, die mir aufgefallen waren.

Sonst war sie gewohnt entgegenkommend. Sie wollte keine leere CD von mir nehmen und auch die 40 Baht nicht haben, die sie zuvor für die Einfärbung selbst drauf gezahlt hatte. Meine Gattin war davon ausgegangen, dass eine Schwester dies getan hatte, und hielt einen Umschlag bereit. Zudem hatte sie für alle drei Frauen Ferrero Rocher in Plastikboxen gekauft. Ihre selbst verpackten Geschenke wurden gerne angenommen.

Während wir vor Dr.Wasee´s Sprechzimmer warteten, sah ich mir die Berichte an. Sie waren wie der erste pathologische Befund von dem selben Pathologen erstellt. Die Resultate der immunhistochemischen Untersuchung beschrieb er einfach: S-100: positiv, HMB-45: positiv, Melan A: positiv. Keine Nennung von Zelltypen, keine Klassifizierung oder Abgrenzung zu anderen Tumoren. Unter den Bericht setzte er die selbe Diagnose wie beim ersten Mal. Nur schrieb er statt: Tumor, Verdacht auf malignes Melanom, einfach: malignant melanoma. Diesen Befund übernahm er als Anhang in den „offiziellen“ pathologischen Report, mit der wortgleichen Diagnose. Inzwischen versetzt mich aber das Wort „malignant melanoma“ in ebenso großen oder keinen Schrecken wie das Wort „Kaninchenfell“. Wenigstens habe ich die bildlichen Darstellungen der Zellen auf CD und ich werde sie von einem anderen Pathologen begutachten lassen.

Dr.Wasee fragte in ihrer leisen Art nach dem Befinden und nach Beschwerden und meinte nach der Ansicht des Auges, es sei noch gerötet und gereizt. Ich solle die bisherigen Augentropfen nur noch morgens und abends nehmen. Vielleicht lag da eine der harmloseren Nebenwirkungen vor, die im deutschen Online-Beipackzettel standen: verzögerte Wundheilung. Sie verschrieb aber gleich neue, damit wir nicht extra reinkommen mussten. Ihre geringe Honorarforderung bei der Kryo wurde von keiner Seite erwähnt. Es kann sein, dass beide Ärztinnen einsehen, dass die Befunde und die Diagnose auf wackligen Beinen stehen, und wollen keine Regressforderungen provozieren. Vielleicht wurde mir auch deshalb der Befund nicht gleich bei der Kryo mitgegeben.

Eine Schwester wurde beauftragt, sich um die Überweisung zur Ultraschall zu kümmern. Aber dazu mussten wir eh selbst in den 4.Stock. Dr.Wasee schrieb jedoch den Namen einer kompetenten HNO-Ärztin auf einen Zettel. In vier Wochen wird sie selbst nicht anwesend sein. Deshalb eilte sie davon, um ihre Kollegin zu fragen, ob ein Termin in drei Wochen recht sei. So werden wir die Beiden am 10.Juli wieder sehen. Auf dem 4.Stock konnten wir später erst einen Termin in der Woche nach den Parlamentswahlen am 3.Juli bekommen. Wir entschieden uns für späten Nachmittag des 6.Juli. Hoffentlich bleibt es nach diesen entscheidenden Wahlen ruhig im Land!

Zu zahlen hatten wir neben den üblichen 120 Baht zweimal 300 als Arzthonorare und 70 (1,60 Euro) für die Augentropfen, zusammen also ca.18 Euro. Wir speisten natürlich im nahen Fuji. Ich bestelle nun immer das Kindermenü. Es schmeckt mir und es reicht mir. Danach fuhren wir wie geplant mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof und von dort mit dem Bus Nummer 7 für 7 Baht zur Endstation, wo Schwager und Schwägerin wohnen. Einmal im Monat möchte meine Gattin hier das Grab ihrer Mutter besuchen. Anschließend ließen wir uns vom Schwager mit seinem kleinen Personenbeförderer zum Sanam Luang 2 bringen, einem riesigen Wochenendmarkt. Meine Gattin kaufte sich zwei Kakteen von ihrer Lieblingsart “Condo“. Und ich bekam Durst auf eine große Flasche Bier. Das Eis im Plastikbecher verwässerte es ein wenig. Ich fühlte mich frei und bestätigt. Im Innersten konnte ich nie an einen bösartigen Tumor mit Metastasen glauben. Dieses Gewächs an meinem Auge war nicht aus einer braunen Veränderung einstanden, sondern inmitten von Äderchen. Wenn jetzt noch ein Pathologe bestätigen würde, dass sich aus den Aufnahmen nicht unbedingt die Diagnose eines malignen Melanoms ergeben würde, wäre das Glück perfekt.

Es hat also einige Aufregung und schlaflose Nächte gegeben, aber letztlich habe ich nur profitiert. Das Röntgen hat bestätigt, dass das Herz am rechten Fleck ist, in normaler Größe, und dass die Lunge ohne Auffälligkeiten ist, obwohl ich eine lange Raucherkarriere hinter mir habe und erst vor drei Jahren damit aufhörte. Wichtig war mir der Zustand der Bauchaorta, nachdem mein deutscher Schwager in Chiang Mai im letzten Jahr an einer geplatzten Aorta verstorben war. Aber alle inneren Organe sind ohne negativen Befund bis auf die „fatty“ Veränderung der Leber. Doch ich lebe nun gesünder, bewege mich mehr, will auch wieder den Pool benutzen und esse weniger. Das Ganze war ein Weckruf, ein Start in ein neues Leben.

Eine Stunde brauchten wir bis zum Hauptbahnhof Hualampong. Von dort ging es wieder mit MRT und Airportlink nach hause in unsere ruhige Siedlung. Das bisschen Kopfweh kam nicht vom Bier, sondern von der Fahrt im offenen Bus.

Noch was Anschauliches, das Auge einen Tag nach der Entfernung des Pickels.

Samstag, 18. Juni 2011

Nullpunkt

Stell´ dir vor, du kommst aus dem Urlaub zurück und die Sekretärin des Chefs versucht dir mit aller Milde und Anteilnahme zu erklären, dass dir gekündigt wurde. Es dürfte dir den Boden unter den Füßen wegziehen. Du kannst ihr nicht böse sein, aber du wirst überwältigt von Wut und Ratlosigkeit und schließlich von Resignation. Dennoch wird dein Leben weitergehen. Du musst vielleicht bei Null anfangen.

An einem solchen Nullpunkt bin ich gelandet. Plötzlich hat vieles keine Bedeutung mehr, ist überflüssig und uninteressant geworden. Nicht nur die heruntergeladenen Filme oder die Internetseiten mit geistigem Wissen und Hintergrundinformationen oder einfach kulinarische Verlockungen spielen nun keine Rolle mehr, sondern ebenso Teile des eigenen Egos und sein Kleben an Meinungen und am Leben. Das Abschütteln war so stark, dass die 1.Person verloren ging. Aber für ein angenehmeres Lesen lasse ich sie zurückkehren. In der privaten Kommunikation wäre der dauernde Gebrauch der 3.Person eher krankhaft. Schließlich bin ich noch nicht so weit erleuchtet oder entrückt wie z.B. der Anlass zu meiner 2.Indienreise, Yogi Ramsaratkumar, der von sich durchweg als „dieser Bettler“ oder „dieses Kind Gottes“ sprach.

Der Neustart von (fast) Null wurde bewirkt durch jene Diagnose und das anschließende schockierende Abtasten der Lymphwege an Gesicht und Nacken. Das Ganze war ein Weckruf, vergleichbar mit dem Stockhieb oder dem Schrei des Zenmeisters. Es hat meinem Leben wieder Richtung gegeben. Dennoch war und ist da Schmerz. Es ist nicht mehr die Furcht vor der Krankheit selbst, die mich zeitweise gelähmt und traurig gemacht hat. Nachdem ich mich wieder vorgestern zulange im Netz mit dem Thema beschäftigt hatte und in der Nacht mich nicht gegen die wiederkehrenden Gedanken wehren konnte, geriet ich in einen See von Traurigkeit. Hinzu kam, dass ich in meiner Ungeduld keinen Heilungsfortschritt an meinem wunden Augapfel erkannte. Meine Gattin bemerkte meinen Zustand sofort. Und es brachte sie auf, zumal in den vergangenen zwei Tagen Gelassenheit und Normalität geherrscht hatte und sie sich gerade darauf freute, mich zu einem Mittagessen einzuladen, nachdem sie einen kleinen Betrag in der Lotterie gewonnen hatte.

Aber Zeit heilt alle Wunden. Gegen die quälenden nächtlichen Gedanken habe ich ein „Hausmittel“ gefunden: stoßgebetartige, wiederholte Formeln.
Dennoch beschäftigt mich der morgige Termin. In Gedanken gehe ich das Gespräch mit der Ärztin durch, lege mir englische Worte und Sätze zurecht. Es dürfte die endgültige Diagnose und Belege dafür zu erwarten sein. Das Kind muss einen Namen haben. Das wird aber wohl nichts an unserem Entschluss ändern, keine weiteren Tests wie die Ultraschalluntersuchung der Lymphknoten im Nacken oder gar eine CT und keine weiteren Therapien am Auge mehr zuzulassen, außer spätere Kontrolluntersuchungen desselben. Das Anfordern des pathologischen Befundes nach der Exzision war schon ein Fehler gewesen, ein großer Fehler.

Was mich in Unruhe versetzt ist, dass ich mein Leben bestimmen lassen sollte von einer medizinischen oder pathologischen Ansicht. Das Leben bestimmen göttliche Gesetze, nicht die von Banken und Konsum und Konventionen, von Pharmaindustrie, Politik und eigenen Zwängen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass, sollte sich etwas Entartetes im Körper befinden, es sich auch wieder entfernen lässt. Ich bin mir nur über die Einnahmeweise der MMS-Tropfen noch nicht ganz klar, werde aber notfalls nächste Woche damit beginnen. Es geht mir nicht darum, dieses Leben zu verlängern, sondern um die gegebene Zeit, den Neustart zu nützen, auch im Hinblick auf die weltweiten Veränderungen.

Sonntag, 12. Juni 2011

Die Kryo

Einer geht noch. Allen gewidmet, die das Positive an dem Geschehen sehen können.

Natürlich waren sie wieder zu früh. Sie holten sich einen Kaffee aus dem kleinen Seven, und als sie um 7 Uhr die Anmeldung abgaben, sagte die Empfangsschwester, sie könnten noch was essen gehen, die Ärztin komme erst um acht. So überquerten sie die Henry Dunant Road und setzten sich an eine Garküche. D. bestellte Wantan-Suppe und Reis mit eingelegter Schweinshaxe. H. konnte nichts essen. Er isst nun sehr viel weniger. Oft hat er nach einem Bissen schon genug. Sein Gewicht und sein Bauch haben bereits abgenommen. Er schläft auch viel besser, kann nach Unterbrechungen gleich wieder einschlafen und sein gewohnter Mittagsschlaf ist nur noch ein kurzes Ruhen.

Als sie zu dem Gebäudekomplex der medizinischen Fakultät der Chulalongkorn Universität zurück gingen, bemerkte H., dass er seine Tasche vergessen hatte. Bevor er jedoch zurück laufen konnte, brachte ein Junge von der Garküche die Tasche mit dem Moped.

Die CD mit den Augenaufnahmen von der Spaltlampe wurde ihnen nun ausgehändigt. Vor dem Einlass in die inneren Bereiche, musste H. eine Blanko-Erklärung unterschreiben, dass er über die Behandlung und ihre Risiken informiert worden sei und dem Arzt alle Vollmacht und Regressfreiheit zubillige. Seine Schuhe musste er zu denen der anderen Patienten auf die eine Seite des Regals stellen, wo sie mit einem Zettel versehen wurden, und dann in Schlappen schlüpfen. Da er auf die Toilette musste, durfte er sich dort umziehen. Wieder kämpfte er mit den vielen Schleifen des hellblauen Patientenhemdchens. Er weigerte sich wie verlangt die Brille abzulegen. Er könne sonst nichts sehen, sagte er. So konnte er die hagere Schwester vom letzten Mal besser in Augenschein nehmen, die ihn empfing und Gesicht und Hände waschen ließ. Und er konnte Dr.Wasee besser in die Augen sehen, als diese sich einen Stuhl holte und sich zu ihm setzte.

Sie fragte, wie er sich fühle. H. hatte sich vorgenommen, ganz ruhig zu sein. Allerdings war sein Blutruck auf hundert achtzig, genau gesagt auf 187/95. Dr.Wasee erklärte, dass er gleich dran käme, sie alles vorbereiten ließe und es in etwa 20 Minuten vorbei sein werde. Sie entschuldigte sich nochmals für den Systemfehler bei der Anforderung der IHC. Sie könne ihn und seine Gefühle gut verstehen und sei ja durch die Emailkopien über alle seine Gedanken informiert. Er habe sich wirklich ausführlich mit dem Thema befasst. Auf die Frage nach dem Ergebnis der Einfärbung meinte sie nur, sie werde sie ihm anschließend mitgeben. H. erklärte etwas erregt, dass nach der Kryo er für keine weiteren Untersuchungen und Therapien mehr zur Verfügung stehe und dass er im Grunde keinen Beweis für die Diagnose fände. Die Ärztin antwortete nur, sie habe das Gewebestück selbst gesehen. Ob ihn denn Dr.Usanee nicht angerufen hätte. Eigentlich wollte sie bei der Kryo dabei sein, aber sie hätte kurzfristig heute morgen zu einem Vortrag nach Pattaya abreisen müssen. Er fragte noch, ob sie auch die kleine Narbe wegeisen würde. Nein, diese würde von selbst verschwinden.

Sie gab ihm selbst noch einige Betäubungstropfen ins Auge, wie die schlanke Schwester schon zuvor. Die beiden beugten sich dann am Schreibtisch über seine Akte. Als es um die Medikation ging, brachte H. vor, dass er Paracetamol wie auch Tropfen und Tränen noch zu hause hätte. Neugierig geworden, worüber die Beiden lachten, ging er selbst zum Schreibtisch. Sie hätten sich gerade bemüht, die Schrift zu entziffern. Er erkannte den handschriftlichen Eintrag: malignant melanoma. Es erschien ihm zwar wie eine Aufzählung unter a) - in Extremsituationen wie dieser, wo man gezwungen ist, ganz aufmerksam zu sein, sieht man dennoch nur ausschnitthaft -, aber er deutet darauf und sagte ein wenig laut, dass er daran nicht glaube. Dr.Wasee erklärte, er solle ruhig bleiben (Don´t stress yourself!), ein hoher Blutdruck sei nicht gut für den Verlauf der Behandlung. Während er vor ihr stand, rutschte ihm die Pyjamahose auf die Knie herunter. Die Ärztin selbst führte ihn zum Sofa und wollte ihm die Schleife wieder binden, was aber dann die Schwester übernahm.

Ein Telefon wurde ihm gebracht. Dr.Usanee entschuldigte sich für ihr Fernbleiben und die Unannehmlichkeiten mit dem Anforderungsformular. Anscheinend seien die Formulare geändert worden. Ihre Assistentin würde bei der Kryo dabei sein. H. fragte nach einer Abschrift der Einfärbungsergebnisse und nach deren Abbildungen, sowie nach einem Foto, das die pathologische Aufbereitung unter dem Mikroskop zeige. Sie werde sehen, was sich machen lässt, zum Teil müssten die Fotos gesondert angefordert werden. Jedenfalls könne er sich immer mit allen Fragen an sie per Email wenden. An der Richtigkeit der Diagnose ließ sie keinen Zweifel. Und sie habe sich überzeugt, dass die Gewebeprobe nicht vertauscht worden sei, wie er in seiner letzten Email angedeutet hatte.

Das Engagement der beiden Ärztinnen geht weit über die professionelle Aufgabe und Distanz hinaus. Aber gerade diese einhüllende, mütterliche Fürsorge schmerzt H. Aus ihren Blicken und Worten, den Reaktionen und Handlungen, auch denen im Verborgenen oder als Vorbereitung, liest er ihr Mitleid und ihr Wissen um eine dunkle Zukunft, die sie für ihn klar zu sehen scheinen. Es wäre Energieverschwendung dagegen anzukämpfen und er hat die Kraft auch nicht mehr. Das Beste wird sein, zu schweigen und den Kontakt auf Kontrolluntersuchungen des Auges zu beschränken.

Im OP-Saal erwartete ihn eine bequeme Liege, auf der er gut Arme und Hände auflegen konnte. Daneben stand ein großer Gaszylinder. Die schlanke Schwester führte und betreute ihn selbst. Die Hose musste sie ihm dabei nochmal binden. Laufend bekam er betäubende Tropfen, zuletzt auch ins rechte Auge. Er wurde steril zugedeckt und Licht und Mikroskop wurden über dem linken Auge eingestellt. Das rechte wurde zugeklebt und sein Gesicht mit der braunen Desinfektionslösung gründlich abgerieben. Eine Schwester fragte nochmals nach Vor- und Nachnamen und nach der zu behandelnden Augenseite, dann wurde ein Tuch über ihn gebreitet, das nur das linke Auge frei ließ. Das Einsetzen des Spreizers gelang im zweiten Anlauf.

Das wiederholte Vereisen und Auftauen war kaum als kleine Stiche zu spüren, schmerzlos und weniger brennend als das Desinfizieren der Lider zuvor. Die Atmosphäre war entspannt und die Schwestern fanden es beruhigend, dass zumindest ihre Aufforderungen in Thai von dem Ausländer verstanden wurden. Schnell war es vorüber, das Gesicht wurde wieder abgewaschen und das Auge zugeklebt. In zwei Stunden, also um elf solle er den Verband entfernen und mit den antibiotischen Augentropfen beginnen. Das Auge sei nun irritiert und werde ein paar Tage gerötet bleiben. Duschen sei möglich. Seine Frau erhielt draußen die selben Anweisungen. Es ist möglich, dass Dr.Wasee versucht hatte, sie zu treffen.

Etwas erschöpft ließ H. sich mit dem Rollstuhl zum Umkleiden fahren. Bevor er die Räume verließ, wollten die Schwestern ihn noch drängen, zwei Paracetamol zu nehmen. Der Heimweg sei lang. Aber er hatte gar keine Schmerzen, weder bei der Kryo noch in den Stunden danach.

D. war bereits mit den anderen, zahlreich wartenden Angehörigen an der Kasse gewesen. Mit Verwunderung hatte sie gesehen, dass diese zum Teil Beträge von dreißig-, fünfzigtausend und mehr zu begleichen hatten. Ungläubig zahlte sie ihre Rechnung: 1600 Baht für die Kryotherapie selbst und 1500 für den Arzt, zusammen etwa 72 Euro. Dabei war im Vorgespräch und auf der Anmeldung der Betrag von mindestens zehntausend genannt worden. Ein Versehen oder unglaubliche Milde und Mitleid der Ärztinnen?

H. konnte trotz des Verbandes seine Brille aufsetzen. Er war müde. Sie mussten jedoch noch auf den Terminzettel warten. Am Sonntag, den 19. werden sie beide Ärztinnen wieder sehen. H. fragte noch nach dem Befund, aber diesen würde ihm Dr.Wasee in der Sprechstunde geben, hieß es. Es war ihm gleichgültig. Er würde bis dahin auch nicht in Emailkontakt treten. Selbst wenn keine Fehldiagnose vorliegt – an einen absichtlich untergeschobenen Befund glaubt er nicht - , mit der Entfernung und der anschließenden Kryotherapie ist der Tumor, gutartig oder nicht, beseitigt. Dr.Usanee wird eine Ultraschalluntersuchung der Lymphknoten des Nackens und des Halses vorschlagen. H. hat sich vorgenommen, ihr schweigend zuzuhören.

Die Fahrt mit dem neuen Taxi, das sie von der Türe weg nehmen konnten, war angenehm. Es lief eine CD mit den gleichen Songs, die sie vor 36 Jahren immer auf einem Kassettengerät zu hören pflegten, und die Texte waren für H. wie eine gute Botschaft. Zu hause musste er sich ausruhen, seine Gattin fuhr alleine auf den Markt nach Minburi. Als er später den Verband abnahm, sah er seinen zur Hälfte rot-verschwollenen Augapfel wieder. Er fühlte sich lediglich etwas gereizt an. Von dem Kartoffelsalat und dem Thunfisch konnte er nur eine Gabel voll zu sich nehmen. Jemand hat mal in einem Vortrag gesagt, der Mensch könne von einer Schale Reis am Tag leben, zwei wären zuviel.

Donnerstag, 9. Juni 2011

Der Stockhieb des Meisters

Laut dem Befund der pathologischen Untersuchung der heraus geschnittenen Wucherung an seinem linken Auge leidet H. an einem malignen Melanom der Bindehaut. also an einer seltenen, aber tödlichen Form des bösartigen schwarzen Hautkrebses. Die üblichen weiter angewandten Diagnoseverfahren sind nach dem Röntgen des Thorax und der Ultraschalluntersuchung des Oberbauches die immunhistochemische Einfärbung der Probe mit den Proteinen S100, HMB-45 und Melan-A - dies wurde gestern in Auftrag gegeben, nachdem beim Ausstellen des Anforderungsformulars am Sonntag ein Fehler aufgetreten ist -, weiter die Abklärung der Ausbreitung im Körper durch Kontrolle der Lymphknoten - eine Biopsie von Wächterlymphknoten hält Dr.Usanee in ihrer letzten Email zu diesem Zeitpunkt für zu aggressiv, da die Risiken den Nutzen übersteigen. Sie schlägt eine Ultraschalluntersuchung der Lymphknoten am Hals vor -, sowie evtl. CT und natürlich laufende Überwachung. Die therapeutischen Maßnahmen sind nach der operativen Entfernung die Kryo, also das Zerstören evtl. noch vorhandener Krebszellen an der operierten Stelle, eine Bestrahlung und/oder die Chemotherapie, also zunächst die lokale Gabe des Zytostatikums Mitomycin C, dann sonstige Chemotherapie oder Gewebeentfernungen je nach Fund von Metastasen.

Die Resultate von Röntgen und Ultraschall ergaben, dass der Zustand von Lunge und aller inneren Organe des Oberbauches völlig normal sei. Ausgenommen eine „fatty“ Veränderung der Leber, jedoch ohne weitere Auffälligkeit. Dies könne mit Diät und Bewegung wieder in Ordnung gebracht werden, meinte der untersuchende Arzt.

Wie erwähnt hätte eigentlich das Ergebnis der immunhistochemischen Einfärbung gestern vorliegen sollen. Aber da ist etwas schief gelaufen. D. wurde auf ihrem Zweithandy angerufen (sie hatte die Nummer vielleicht von Dr.Wasee aus ihrem Büchlein abschreiben lassen), sie sollten sofort in die Klinik kommen und für die IHC bezahlen, weil diese erst durchgeführt werden kann, nachdem das Anforderungsformular eingegangen ist. Die Ärztin hätte schon nach dem Resultat gefragt. Von halb fünf bis sechs Uhr wurde nun dieses Formular in der Station herumgereicht und die beauftragte Schwester war nicht fähig, das Problem zu lösen, das sie selbst verursacht haben könnte. Zunächst versuchte sie vergebens die beiden Ärztinnen zu erreichen. Sie wurde recht pampig und meinte, sie sollten morgen wieder kommen und bezahlen. D. war am Ende ihrer Geduld. H. ging alleine runter zu seinen Untersuchungen. Schließlich gab D. die erforderlichen 2000 Baht einer Schwester ohne Quittung. Es war wohl so, dass ein falscher Code angebracht worden war und H. und D. damit für jemand anders die 72 Baht bezahlten und das Formular ausgehändigt bekommen haben.

H. lächelte sich derweil im 4.Stock durch. Erst musste er bezahlen und wurde dann gleich zu den Behandlungsräumen gebeten. Nur wenige Patienten warteten mit ihm. Ein Helfer reichte ihm ein Krankenhemdchen und zeigte ihn eine Umkleidekabine. Das Zubinden der vielen Schleifen dauerte länger als das Röntgen danach. Eine junge Schwester positionierte ihn an die Wand, einmal tief einatmen, fertig. Während er kurz auf die Ultraschall wartete, bei schöner Aussicht auf die Kreuzung Silom/RamaIV, gesellte sich D. zu ihm, höchst verärgert über das Verhalten der Schwester. Als dann noch später beim Verlassen der Klinik ein Mann, der auf einer Steinbank lag und an dem sie vorbeiging, eine unflätige Bemerkung machte, war ihr Urteil über die Bevölkerung wieder bestätigt. „Nur fünf von hundert sind gut.“ sagte sie.

Die eigenartige Schwester, die sie am Sonntag beim Terminmachen kennengelernt hatten, führte H. in eine der Untersuchungskabinen. Er musste sich auf der Liege ausstrecken und sie wickelte ein großes, weißes Handtuch in seinen Hosenbund und deckte ihn mit einem ebensolchen zu, nachdem sie sein Hemd hoch geschoben hatte. „Do you speak Thai? I speak little English.“ Die Wartezeit war lang. Einschlafen war beim Summen der Klimaanlage nicht möglich. Als der junge Arzt kam, fragte H. ihn sogleich, ob er ihm die Befunde gleich mitteilen würde. Er stimmte zu und fragte nach Einsicht in die Unterlagen, seit wann H. von seinem Melanom wusste. Bis auf die fettige Leber waren alle Organe normal abgebildet. Er bekam die in Englisch verfassten Ergebnisse, auch das vom Röntgen, samt allen Aufnahmen nach einer kurzen Wartezeit in einem großen Kuvert mit. Statt im Fuji aßen die beiden dann in einem kleinen Chinarestaurant. H. schmeckte seine Nudelsuppe und natürlich hatte er nach der langen Abstinenz großen Durst.

Die zwei sind sich darüber einig, dass nach der Kryo am Samstag die Krankheit kein Thema sein wird und sie keine weiteren Diagnose- und Therapieverfahren mehr zulassen werden. Die Kryo soll das Risiko des Wiederauftretens vermindern und kann evtl. die noch vorhandene Narbe beseitigen. Dr. Wasee ist von der Arbeit ihrer Kollegin auch deshalb so begeistert, weil diese so geschnitten hatte, dass laut pathologischem Befund die Ränder frei von Tumorzellen sind. Die Ärztinnen sind überaus besorgt und dabei sehr liebenswürdig. In der letzten, von beiden unterzeichneten Mail am Morgen ließ Dr.Usanee wieder das Mister weg, entschuldigte sich tief für die Ungemach mit der Rechnung und wünschte gute Informationen.

Die ganze Geschichte, das immer wieder kehrende Thema, die Stunden in der Klinik machen auch D. krank. Für H. ist dies wie der Stockhieb des Meisters, der ihn aufweckte. Sein Leben ist verändert. In den letzten Monaten saß er stundenlang am PC, war faul und ließ sich gehen. Das Sofa hat an seinem Platz eine Delle. Nun hat nicht nur sein Geldbeutel, sondern auch sein Bauchumfang und sein Ego abgenommen. Das Niederschreiben der Geschehnisse und Empfindungen lässt ihn alles verarbeiten und als Erinnerung ablegen. Da dies aber mehr den Charakter von Tagebucheintragungen angenommen hat und wohl nur sehr wenige Menschen Zeit zum Lesen und Verständnis aufbringen, wird dies vielleicht der letzte Eintrag sein.

Dienstag, 7. Juni 2011

Befinden

H. fühlt sich noch nicht krank. Im Gegenteil. So leicht, beschwingt und konzentriert war er seit geraumer Zeit nicht mehr. Allerdings hat er keinen Hunger und keinen Appetit. Das Mittagessen gestern, Kartoffelsalat, Hackfleischklöse und Sprossensalat, konnte er nicht zu Ende bringen und als Abendessen nahm er nur Trauben und zwei Stückchen Emmentaler. Er trinkt aber zwei, drei Gläschen Reiswein mehr. Heute wird er mindestens fünf Stunden auf Essen und Trinken verzichten müssen wegen der Oberbauchultraschall. Es kann sein, dass dabei oder auch beim Röntgen des Brustkorbes Metastasen festgestellt werden oder eben nicht.

Sein Schlafen ist ganz entspannt. In tiefen Phasen träumt er, kann sich aber nicht an den Traum erinnern. Dazwischen kreisen englische Wörter und medizinische Fachbegriffe im Kopf herum, wie Reflexe eines sich zuvor schnell drehenden Karussells. Aber er geht ihnen nicht nach. In der Meditation begreift er, was „absichtslos“ bedeutet, und fühlt seinen Körper und seine Organe plastisch.

Die Tätigkeit am PC wurde reduziert. H. hilft seiner Gattin ein wenig bei der Arbeit, indem er z.B. die Leiter hält, während sie putzt. Er unternahm gestern und heute morgen einen Spaziergang durch die Siedlung, wo es schöne Parkflächen mit Teichen und Plätzen zum Verweilen gibt. Er sieht, wie schön der Ort ist, an dem wohnt. Die äußere Welt mit ihren Nachrichten, Kriegen und Seuchen ist fern. Er träufelt dreimal täglich die Tropfen und dazwischen gelegentlich die künstlichen Tränen, aber sonst kümmert er sich um sein Auge wenig.

Die beiden führten gestern ein offenes Gespräch. H. sagte, dass auch wenn sie bisher dachten, guten Leuten passiert so etwas nicht, er nun davon überzeugt sei, eine seltene, aber tödlich verlaufende Krebsform zu haben. Er erläuterte, was ihn zu dieser Einsicht brachte. Nun gehe es darum, gemeinsam mit der Situation umzugehen und die weitere Zukunft zu planen. D. gestand, wie die Diagnose, die Aufenthalte in der Klinik und die Gespräche darüber sie selbst krank machten. H. versprach, dass nach diesem Wochenende die Krankheit kein großes Thema mehr sein werde. Weiteren Operationen werde er nicht zustimmen. Er habe seinen Frieden gefunden und freue sich nach vier Jahren in Thailand auf weitere schöne Monate. Nach seiner Einäscherung werde sie aber wieder nach Deutschland zurückkehren, meinte D.. Sie konnten von da an wieder gemeinsam lachen und das Geschehen im TV verfolgen.

Es gibt noch eine Therapie, die H. ab kommender Woche beginnen wird und die von keinem Arzt sondern nur in Eigenverantwortung durchgeführt werden kann. Die Mixtur für die MMS-Tropfen liegt schon lange im Schrank.

Montag, 6. Juni 2011

Behandlungsplan

Sie erreichten die Klinik im 11.Stock vor halb acht und sollten sie erst vier ein halb Stunden später wieder verlassen. Zur Anmeldung hatte H. einen handgeschriebenen Zettel auf den Nagel gesteckt, da er ja kein Terminformular hatte. Als bei der maschinellen Augeninnendruckmessung mittels dreier Luftstöße die Assistenten ein komisches Gesicht machten und einen Extrastoß gaben, wusste er, dass der Wert, der normalerweise zwischen 10 und 21 mmHg liegen sollte, überhöht war. Ein Blick auf die eingehefteten Zettel ließen Werte zwischen 26 und 30 erkennen.

Dr.Usanee fragte, wie es ihm gehe. Mit seiner Antwort, er sei ein bisschen nervös, gab sie sich nicht zufrieden. Sie kannte ihn und seine Krankheit mehr als sie in Worten zum Ausdruck brachte, aber ihre Reaktionen waren deutlich. Sie wiederholte ihre Frage. Er erwiderte, er sei ein wenig nervös, aber er sei glücklich mit der Ergebnis des Eingriffs und das Auge werde sichtlich jeden Tag besser, bis auf eine kleine Erhebung im Winkel. Allerdings sei der Innendruck sehr hoch. Ob dies nicht eine Nebenwirkung der Augentropfen sein könne, ebenso wie der hohe Blutdruck und die Schmerzen in Nacken, Schultern und Armen. Die Ärztin war nicht dieser Auffassung und begann gleich um ihn zu beruhigen mit der Messung durch ihren Tonometer, gefälligkeitshalber auch am rechten Auge. Nachdem die Assistentin betäubende Tropfen verabreicht hatte, ging die Messung ohne die leisesten Beschwerden von statten und ergaben rechts 19 und links 20. Sie werde ihm aber andere Tropfen verschreiben, die er dreimal täglich nehmen sollte. Die künstlichen Tränen dürfe er anwenden, wann immer er das Bedürfnis habe und er meine, es würde dem Auge gut tun. An einen Rhythmus sei er da nicht gebunden.

Sie berührte seinen Arm und sagte ihm, dass sie verstehe, wie schockierend die Diagnose gewesen sei und nun in sein Leben eingreife. Jetzt gehe es darum, die weitere Behandlung zu besprechen. Wie von ihm und dem pathologischen Bericht bereits verlangt, werde sie eine immunhistochemische Untersuchung in Auftrag geben. Diese werde 1-2 Tage dauern und 1500 Baht kosten. In der Email waren 2000 genannt. Er fragte sie nach den verwendeten Proteinen. Sie schrieb sie ihm auf. Vom Ergebnis werde sie ihn per Email unterrichten. Beiläufig fragte sie D, wie lange H. schon im Lande sei und auf welcher Basis. Sie wollte sich wohl ein Bild von seinen Verhätnissen machen. Immer wieder ließ sie sich von seinen Zwischenfragen und Bemerkungen unterbrechen. Er fragte sie auch, warum sie gleich nach der OP von einer 50/50 Chance sprechen konnte. Das habe sie erst nach dem Herausschneiden feststellen können, meinte sie flüchtig. Von den Tests erwarte sie drei Dinge: Aufschluss über den Typus der Zellen – der bösartigen Zellen, verbesserte sie sich -, deren Aggressivität und die weitere Therapieplanung. H. sagte, er glaube weiter nicht an ein bösartiges Melanom. Der Pickel könne viele andere Ursachen gehabt haben und außerdem bedeute Melanom, dass farbige Pigmentzellen beteiligt sein müssen. Sie erwiderte kurz, dass wenn eine Verletzung Ursache gewesen sei, man eine Narbe im Auge hätte sehen müssen, eine Virusinfektion schließe sie aus und es gäbe auch amelanotische Melanome. Warum sie so sicher sein könne, dass es sich um ein malignes Melanom handle? Weil zwei Ärtinnen und zwei Pathologinnen zu dieser Auffassung gelangt sind. Wegen seinen Befürchtungen hinsichtlich der Kryo wurde er auf das gleich stattfindende Gespräch mit Dr.Wasee verwiesen, zu dem sie auch hinzukommen werde. Sie zuckte kurz, als H. sein Einverständnis zur Kryo erklärte: „wenn es denn notwendig sei.“ Sie machte Aufnahmen vom Auge und zeigte sie auf dem Monitor. H. kam sein vergrößertes Augenbild nicht so schön vor wie er es sonst im Spiegel sah. Er bat um die Fotos und die Ärztin streckte die Hand nach der CD aus. Er sollte sie später erhalten.

Die Ärztin und ihr Patient wussten beide um die weiteren Schritte. Eine Röntgenuntersuchung des Brustkorbs und eine Ultraschalluntersuchung des Oberbauches sollten Anzeichen von Krebsbefall in Lunge und Leber feststellen. H. verweigerte sich. Dies würde ihn nur noch mehr herunter ziehen. Er könnte vielleicht mit der Krankheit leben, aber er wollte nicht dauernd mit ihr konfrontiert sein und laufend weiteren Untersuchungen und Therapien ausgesetzt sein.

Während er draußen darauf wartete, zu Dr.Wasee vorgelassen zu werden, fragte er D. nach ihrer Meinung. Sie empfahl ihm, mit allem, was die Ärztinnen vorschlugen, einverstanden zu sein. Sie war von deren Aufrichtigkeit und Sachkenntnis überzeugt. Sie hatte für beide zwei Flaschen deutschen Weines mitgebracht und sie ihnen überreicht, als deren Assistentinnen kurz aus dem Raum waren. D. war überhaupt an diesem Vormittag recht geduldig.

Also erklärte H. Dr. Wasee gleich, dass er mit allen Therapiemassnahmen einverstanden sei. Dr.Usanee ließ ihre Patientin allein und kam durch die Hintertür. Gemeinsam wurde als Termin für die Kryo – Kryo-Therapie, nicht Kryo-Chirurgie, betonte Dr.Wasee – der Samstag ausgesucht. Er solle sich um acht oder zehn vor acht vor dem bekannten OP-Raum einfinden und um halb neun würde sie anfangen, durch wiederholtes Einfrieren und Auftauen die womöglich noch vorhandenen Tumorzellen zu zerstören. Dies würde fünfzehn Minuten in Anspruch nehmen und Dr.Usanee würde auch anwesend sein. Nach 2-3 Stunden könne er den Verband vom Auge wieder entfernen. Das Auge werde ein paar Tage gerötet sein. H.s Bitte, ihn doch auf einem genügend breiten OP-Tisch liegen zu lassen, wurde mit Lachen und einem Versprechen quittiert, soweit dies möglich sei.

Die anderen beiden Untersuchungen könnten ebenfalls an diesem Samstag stattfinden. Eine Schwester kam hinzu und wollte am Telefon abklären, ob der Termin möglich sei. H. und D. wurden gebeten zu warten, bis Dr.Usanee ihnen die Überweisungen ausstellen würde. Sie erfuhren, dass das Röntgen heute noch im 4.Stock stattfinden werde und dort sollten sie sich den Termin für die Ultraschall geben lassen. Sie erhielten die Unterlagen für die Kryo.

Zunächst mussten sie auf den Aufruf an der Kasse warten. Sie staunten, als sie neben den üblichen 120 Baht und den 70 Baht für die neuen Augentropfen nur 300 Baht für das Konsultieren der beiden Ärztinnen bezahlen mussten und fragten nach der Vorausrechnung für die IHC. Der Kassenwart eilte selbst davon und nach kurzer Wartezeit erhielten sie die Rechnung mit beigefügter Kopie der Anforderung, auf der auch die drei zu verwendenden Standartproteine genannt waren: 60 Baht plus 12 Baht Service Charge.

Sie fuhren in den 4.Stock, bereit für das Röntgen. Allerdings meinte die eigenartige Schwester, die Termine sollten zusammengelegt werden und schlug den Dienstag Abend vor. Zuerst mussten die zwei nochmals nach oben und sich auf dem Antragsformular für den Ultraschall Diagnose und anfordernden Arzt nachtragen lassen. Das ging rasch. Eine Schwester kam ihnen nachgelaufen und richtete aus, dass wegen Problemen am PC die Bilder per Email geschickt werden würden. So muss H. also am Dienstag um 18 Uhr auf dem 4.Stock erscheinen, wobei er ab 12 Uhr nichts mehr essen und trinken darf. Die Kosten stehen auch gleich auf dem Terminzettel: 330 Baht für X-ray und 1200 Baht für Ultrasound.

Endlich konnten sie das Krankenhaus verlassen und wieder ins Fuji zum essen gehen. H. hatte das starke Gefühl von Entgegenkommen. Nicht nur durch die Ärztinnen in menschlicher und finanzieller Form. Das Leben kam ihm entgegen und er kam dem Leben entgegen in allen seinen Formen.

Sie fuhren mit der BTS zum Paragon, wo eine Orchideenschau stattfand. Als D. jedoch bemerkte, dass nur prämierte Blumen ausgestellt waren und keine zum Kauf angeboten wurden, verlor sie sofort das Interesse. Nach einem kurzen Bummel durch die Lebensmittelabteilung, wo D. Preise verglich und Salat, sauren Fruchtgummi und Innereien kaufte, - sie wollte vielleicht mal wieder Saure Kutteln kochen -, fuhren sie nach hause.

H. begann gleich am PC seine Nachforschungen zu den Augentropfen, zu den immunhistochemischen Tests und wieder zu malignen Melanomen. Er las viel über verschiedene Krebsarten, Diagnosemöglichkeiten, Krankheitsverläufen und Therapieformen. Er stöberte in Krebs-Foren. Bis er sich sagte: jetzt ist es genug. Aber auch die Seiten, die er sonst gewöhnlich mehrmals täglich besuchte, Nachrichtenseiten und Foren und Blogs, hatten plötzlich ihre Anziehungskraft verloren. All das hatte keine Bedeutung mehr. Die Seiten und nun viele andere Dinge waren mit keinem Verlangen, mit keiner Befriedigung, mit keinem Ich mehr verbunden. Die 1.Person hatte die Bedeutung verloren, war nicht mehr da. H. erinnerte sich an eine Frau, eine Prophetin, die es ebenfalls vermied, die 1.Personenform zu benutzen. Dies war keine Resignation, kein Ausblenden der schmerzhaften Wirklichkeit, kein Psychotrick, sondern das Ablegen einer Last, eine Befreiung. Vielleicht tun ihm auch deshalb die Schultern nicht mehr weh.

Er schlief gut in dieser Nacht. Bis auf eine kurze Zeit, in der er einen Brief an die Ärztinnen aufsetzte und um Offenlegung ihrer Kenntnisse und ihrer Ansichten über den weiteren Verlauf bat. Um sein Auge, dessen Genesungsfortschritt er bisher häufig im Spiegel verfolgte, kümmert er sich nicht mehr. Er darf ja wieder duschen und muss es nachts nicht mehr abdecken. Er wird die anstehenden Untersuchungen und die Behandlung in dieser Woche ohne Klagen und Zweifel durchstehen. Nach Ablauf diesr Woche wird Krebs kein großes Thema mehr sein. H. hat sich vorgenommen, manches in seinem Leben anders zu gestalten. Weniger Zeit am PC, mehr Spaziergänge oder Schwimmen im Pool. Sein gesunkener Hunger und Appetit wird der Gewichtsreduzierung und somit auch dem Blutdruck dienlich sein. Notwendig ist ein offenes Gespräch mit D. und eine gemeinsame Lebensplanung. Wenn dies zu seiner Schulung und Vervollkommnung gehört, ist es gut. Gottes Wille geschehe!






Samstag, 4. Juni 2011

Reaktion

In den Tagen nach diesem Sonntag fuhren meine Gefühle und Gedanken Achterbahn. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an bösartige Tumore im Auge und in weiteren Organen. Nachts konnte ich nicht mehr schlafen. Ich hatte keinen Appetit mehr, der Nacken und die Schultern schmerzten und mein ohnehin hoher Blutdruck machte mir Sorgen. Ich fühlte mich elend und sollte dabei doch in Harmonie mit dem Jetzt sein und alles annehmen. Es gelang mir nicht.

Ich habe mein Auge zurück und jetzt will ich mein Leben zurück. Ich bin mit dem Ergebnis der OP sehr zufrieden. Mein Auge wird jeden Tag besser in Aussehen und Empfinden. Die Wunde ist bis auf 10% geschlossen, war am Sonntag festgestellt worden. Es besteht nur noch eine kleine, längliche Schwellung oder Vernarbung im Nasenwinkel, aber dies wird von Tag zu Tag kleiner und heller. Ich will wieder beide Augen werfen können auf die Landesschönheiten, äh die Schönheiten des Landes und seine Bewohner, ohne an Krebs, Krankheit und Behandlung denken zu müssen.

Am Montag schrieb ich Dr. Usanee eine Mail. Ich legte ihr meine Gefühle dar, meine Ansicht über den Report und die Diagnose und die Gründe, warum ich nicht an ein Melanom glaube. Dass ich keinen Sinn in der Kryo sehe und nur weitere Schäden an dem genesenden Auge befürchte. Ich bat sie, den Termin abzusagen und mir einen Beratungstermin in zwei Wochen bei ihr zu geben. Die weiteren Tests an mir hätten ja keine negativen Befunde ergeben und selbst wenn der Tumor am Auge bösartig wäre, eine Rückkehr könne wohl auch mit Kryo nicht ausgeschlossen werden. Ich drückte ihr mein Vertrauen aus.

Ich musste bis Mittwoch Nachmittag auf Antwort warten. Wir kamen gerade vom Einkaufen im Seacon und Essen im Fuji im Paradise Park zurück. Sie ging nicht ausdrücklich auf meine Mail ein, sondern bestätigte den Report. Es sei ein bösartiges Melanom und sie empfahl die Kryo. Sie würde mich aber gerne am Sonntag sehen, um die weitere Behandlung zu besprechen. Sie fügte einen Link bei, wo ich Bilder von Augentumoren anschauen konnte. Nur leider passt kein Bild zu meinem Fall.

In meiner umgehenden Antwort sagte ich ihr, dass ich für die Kryo noch nicht bereit sei, aber gerne am Sonntag kommen würde. Ich bat sie nochmals den Termin abzusagen. Ich schilderte ihr meine Gefühle, wie krank und depressiv es mich macht, ständig an Krebs zu denken und Bilder von Tumoren und Videos von Augenoperationen zu sehen. Dr.Wasee war in die Korrespondenz über Email-Kopie mit eingebunden.

Die Nachbarn und alle, mit denen meine Frau gesprochen hat - und Thais können ausführlich jedes kleinste Detail über einen anderen weiter erzählen -, raten, die Kryo durchzuführen. Aber die können leicht reden.
Am Abend kam mir ein neuer Gedanke und ich schrieb eine dritte Mail. Falls sie mir garantieren könne, dass bei der Kryo kein gesundes Gewebe zerstört werden würde und keine Schäden zurück bleiben und alle evtl. vorhandenen Tumorzellen abgetötet würden, und sie mir gleichzeitig versichern oder Methoden zur Sicherstellung aufzeigen könne, dass keine Streuungen vorhanden sind, so wäre ich mit dem Termin am Sonntag morgen einverstanden. Dafür müsste ich aber am Freitag oder Samstag mit ihr oder Dr. Wasee sprechen.

In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Ein mitternächtliches Besäufnis half auch nicht. Um 4 Uhr heute früh schrieb ich eine weitere Mail. Der Report rät doch zu einer immunohistochemischen Untersuchung. Diese dient u.a. nach meiner Reserche zur „Klassierung und Diagnose von wenig differenzierten malignen Tumoren und zur Identifikation der Lokalisation des Primärtumors beim Vorliegen einer Metastase.“ Ich bat Dr. Usanee, diesen Test zu veranlassen. Ich wolle das Ganze möglichst schnell hinter mich bringen, aber ohne einen Rest von Zweifel oder ein schlechtes Gefühl und unnötigem Geldeinsatz.

Ich kehrte nicht ins Bett zurück, sondern blieb am Notebook sitzen und schrieb die Geschichte nieder. Damit hatte ich wenigstens etwas Beschäftigung gefunden. Zeitgefühl und Müdigkeit waren nicht vorhanden.


Freitag

Letzte Nacht schlief ich so gut wie schon lange nicht mehr. Ich habe mein Leben wieder zurück und meinen Frieden. In den vergangenen vier Tagen machte ich wohl alle Phasen durch, die oft bei Todkranken zu beobachten sind. Von Unglauben und Ablehnung über Aufbegehren und Anklagen hin zu Resignation und Annehmen. Nur habe ich nicht gefragt: warum gerade ich? und ich habe niemandem eine Schuld gegeben. Diese Emotionen kommen auch in den fünf Emails zum Ausdruck, die ich an die beiden Ärztinnen geschrieben habe. Zunächst die Ablehnung von Diagnose und Kryo, dann Ausdruck von Hoffnung und Auswegsuchen und schließlich das Eingestehen, dass ich mit allem einverstanden sei. In meiner vorletzten Email gestern Abend schrieb ich, dass es mir nun gleichgültig sei, ob die Kryo gleich am Sonntag stattfindet oder ob ich vorher nochmal in die Sprechstunde komme. Im Schreiben zuvor, das ich nachts um vier Uhr absandte, wies ich sie wie schon geschildert darauf hin, dass der pathologische Bericht in seiner letzten Zeile darum gebeten hatte, eine immunohistochemische Untersuchung (IHC) zur endgültigen Diagnose zu verlangen. Ich hatte gelesen, dass dadurch u.a. die richtige Art des Tumors erkannt und klassifiziert werden kann und festgestellt wird, ob er primär ist oder von welchem anderen Organ er ausgeht. Ich betonte, dass es mein Wille sei, dass alles zu einem schnellen und guten Ende kommen möge, ohne den Rest von Zweifel oder einem unguten Gefühl oder unnötigem Geldeinsatz.

Im Laufe des gestrigen Tages wurde ich langsam ruhiger. Obwohl ich weiterhin eifrig im Netz forschte, versuchten wir beide die gewohnte Routine und Kommunikation zu bewahren. Meine Frau arbeitete wie immer ohne Pause in Küche und Garten und bügelte die Wäsche, während ich versuchte mir keine weiteren Sorgen zu machen und meinen Gleichmut zu finden. Mit wenig Mühe konnte ich wieder lachen und mich über Dinge freuen, wie z.B. die Taube, die in einem unserer Bäume Nachwuchs bekommen hat. Obwohl ich viele Stunden nicht geschlafen hatte, verspürte keine Müdigkeit, nur eine Leere, und ich hatte kaum Hunger und keinen Appetit. Das Mittagessen, Schweinebraten mit Spätzle und Salat, kam mir zum Ende fast wieder hoch. Die Stunden vergingen jedoch rasch. Ungeduldig wartete ich auf Nachricht von Dr. Usanee, auf ihre Entscheidung: Kryo oder Sprechstunde am Sonntag.

Die Email der beiden Ärztinnen machte mich glücklich. Sie wollten mir beim Treffen am Sonntag ebenfalls vorschlagen, die IHC zu veranlassen. Die Tests würden 2-3 Tage dauern und 2000 Baht kosten. So könnte dann der spezifische Typ der Tumorzellen identifiziert werden. Ich solle am Sonntag in ihr Büro kommen, nicht zur chirurgischen Behandlung, sondern zur Kontrolle der Wunde und zum Besprechen eines Therapieplanes. Sie drückten ihr Verständnis und ihr Mitgefühl darüber aus, wie diese unglückliche Sache mein Leben beeinflusst hat. Bemerkenswert und ein Zeichen von Vertrautheit ist, dass sie in ihrer Anrede das Mister weggelassen haben und mich nur mir dem Vornahmen anschrieben.

Ich bedankte mich überschwänglich und werde nun am Sonntag ohne Ängste ins Chula gehen. Bösartiges Melanom? Sicher nicht! Jetzt schmeckten auch die Kirschen wieder und die Trauben zum Emmentaler. Das Auge sieht an der befallenen Stelle aus wie früher. Nur im Winkel ist eine Art Narbe, die aber täglich heller und kleiner wird. Ob sie ganz verschwindet oder beobachtet werden muss, ob sie ein kosmetischer Fall ist oder entfernt werden sollte, werde ich erfahren. Ich wäre auch mit der Kryo einverstanden, falls sie medizinisch notwendig ist.

Jede Krankheit oder Extremsituation ist auch eine Chance und ein Lehrstück. Seit meiner Jugend habe ich mein Leben auf ein Ziel hin ausgerichtet. Die Überzeugung, dass wir im Innersten eins mit Gott sind, hat mich nach der Schule nach Indien geführt und bestimmt auch jetzt mein Leben. Es geht nicht um Dogmen und Meinungen, sondern einzig um Erfahrungen, die nach und nach verwandeln. In der Woche nach dem Eingriff hatte ich Empfindungen von völligem Loslassen. Oder ich fühlte mich in ein reines, helles Gewandt gekleidet, so wie wir es nach dem Tod oder vielleicht bei der Umgestaltung der Erde tragen werden. Noch am Sonntag im Wartesaal spürte ich so etwas wie die Dämmerung Gottes. Gestern freute ich mich auf das Leben nach diesem Leben. Und nach den dunklen Stunden der letzten Tage fühle ich eine noch stärkere Losgelöstheit. Bei allem Bleiben in der Gegenwart klebe ich nicht an ihr.

Freitag, 3. Juni 2011

Die Diagnose

Obwohl wir uns mit der Anfahrt Zeit ließen und noch an der Silom einen Kaffee tranken, waren wir schon um 7.30 Uhr im Wartesaal und ich kam sogar schon vor halb neun dran. Wieder wurde schnell der Augendruck und die Sehschärfe gemessen, gefolgt von einem kurzen Sehtest. Dr. Usanee begrüßte mich freundlich. Das Ergebnis der histologischen Untersuchung aus der Pathologie des Chula lag ihr vor. Sie machte ein ernstes Gesicht. Eigentlich hatte ich einen positiven Befund eines gutartigen Tumors, eines Hämangioms, also eines Blutschwämmchens erwartet, wie er mir schon aus meiner linken Handfläche herausgeschnitten worden war. Sie hatte gleich nach der OP von einer 50/50 Chance gesprochen und auch kurz angedeutet, wie eine weitere Behandlung bei einem negativen Befund aussehen würde. Aber dafür hatte ich zum damaligen Zeitpunkt keine Ohren.

Der Befund beschreibt das Gewebestück, zählt gefundene Zellen und deren Eigenschaften auf und kommt zu dem mir nicht einleuchtenden Ergebnis, dass es sich um ein Karzinom handele mit Verdacht auf ein bösartiges Melanom. Er betont, dass an den Rändern keine Tumorzellen zu finden sind und empfiehlt eine immunohistochemische Untersuchung zur eindeutigen Diagnose. Ich war zunächst ziemlich aufgewühlt. Auch Dr. Usanee war mit dem Report nicht zufrieden. Man muss den Verdacht begründen und eingrenzen können. Sie telefonierte deshalb mit der Leiterin der Pathologie, die an der Untersuchung selbst nicht beteiligt war, und bat um eine nochmalige Überprüfung. Bis Dienstag würde die „Ajahn“, die Professorin, den Befund vorlegen können. Ich holte meine Frau hinzu. Dr. Usanee taste meinen Gesichtsrand und meinen Nacken nach Lymphknoten ab, da der Tumor gestreut haben könnte oder seine Entstehung in einem anderen Körperteil haben könnte. Sie fand nichts und auch in der Spaltlampe sah das Auge eine Woche nach der OP viel besser aus. Die Wunde sei bis auf 10% geschlossen. Sie machte wieder Aufnahmen. Später bat ich sie, diese mir zu überlassen. Ich hatte einen USB-Stick dabei, aber Dr. Usanee hielt es ohne Umstände für besser, mir beim nächsten Mal die Bilder auf eine mitgebrachte CD zu brennen.

Als weitere Therapie sah sie eine Kryo vor. Ich musste auch zuerst nachfragen. Um sicher zu stellen, dass keine Krebszellen im Auge zurück geblieben sind, sollte der Rand und der Boden der Wunde mit Kälte behandelt werden. Sie würde sich mit ihrer Kollegin beraten und wir könnten gleich zu dieser in die Sprechstunde. Die zweite Möglichkeit der Behandlung mit Augentropfen würde sich weniger empfehlen, zumal dies einer Chemotherapie gleich käme. Ich bat sie um ihre Email-Adresse. Die Telefonnummer wollte sie uns verständlicherweise nicht geben.

Wir warteten. Vorweg, als wir um 11.30 das Hospital verließen, war meine Frau am Ende ihrer Kräfte. Nicht nur der gesunkene Nikotinspiegel und der Hunger waren Schuld. Sie besucht zwar gerne Leute im Krankenhaus, aber sie hasst es, sich dort aufzuhalten und zu warten, wobei es immer weiter zur nächsten Untersuchung und Behandlung geht, ohne dass ein Ende oder eine Heilung abzusehen wäre. Wer sich in Thailand zu einem Arzt begibt, sagt sie, setzt damit nur eine lange Reihe in Gang, ohne dass es ihm besser gehen würde. Sie fühlt sich zugegebenermaßen gar nicht wohl in diesem Land und unter ihren Landsleuten.

Von Dr. Wasee waren wir sofort angetan. Sie hat ein strahlendes, fröhliches Wesen. Begeistert lobte sie die Arbeit ihrer Kollegin. Die Bilder hatte sie bereits gesehen. Sie würde die Kryo durchführen und dafür freitags oder sehr früh sonntags im OP sein. Wir fragten nach den Kosten. So wie bei der letzten OP. Dr. Usanee war durch den hinteren Verbindungsgang auch hinzugekommen, aber mir ist von dem Gespräch kaum mehr etwas in Erinnerung. Wir sagten für nächsten Sonntag zu, wobei ich mich innerlich noch nicht entschieden hatte. Die beiden bemühten sich mir meine Angst zu nehmen, aber ich habe ja keine mehr. Ich hatte sogar daran gedacht und zuvor Dr. Usanee danach gefragt, mir die Augen lasern zu lassen. Meine Gattin meint zwar, ich sei dafür schon zu alt, aber es wäre schön, ohne die lästige Brille auszukommen, durch die ich sowieso nicht scharf sehe wenn´s ums Lesen geht. Dr. Usanee meinte, das könne man zu einem späteren Zeitpunkt erörtern, wobei es bei meiner Fehlsichtigkeit in diesem Alter nicht so einfach wäre.

Ich gab Dr. Wasee meine Email-Adresse und unsere Telefonnummern. Wir verblieben so, dass wir zuerst das Ergebnis der histologischen Nachprüfung abwarten wollten und sie uns telefonisch oder per Email in Kenntnis setzen werde. Enttäuscht und entmutigt begaben wir uns in den Eingangssaal, um auf den Aufruf zum Begleichen der Rechnung zu warten. Da holte uns eine Schwester wieder zurück. Dr. Wasee würde gerne eine Ultraschalluntersuchung machen lassen. Ich stimmte sofort zu. Ich wurde mit meiner Mappe in einen anderen Raum geschickt. Meine Gattin wurde immer unlustiger und wartete im Saal. Für mich ging es in einen Untersuchungsraum, wo ich mich auf der harten Liege ausstrecken musste. Eine geschwätzige Schwester wollte meine Frau dabei haben, damit ich nicht allein sei. Sie hielt es aber nicht so lange aus bis Dr. Wasee endlich kam, um den Test selbst durchzuführen. Denn ich musste lange warten; sitzend, denn so lange unbequem zu liegen war ein Unding. Dabei hatte ich aber Gelegenheit, meine Akte anzuschauen. Von den englischen Fachwörtern des Berichtes machte ich mir Notizen. Unnötigerweise, denn ich bekam auf meine Bitte eine Kopie. Ich sah auch an den eingeklebten Zettelchen, dass mein Augendruck an diesem Tag über dem normalen Maß lag.

Die Ultraschalluntersuchung wurde einfühlsam und rasch an beiden geschlossenen Augen vorgenommen. Weder das Auftragen und Entfernen des Gels noch das Führen des Stiftes waren schmerzhaft oder unangenehm. Dr. Wasee zeigte und erklärte mir das ausgedruckte Ergebnis. Beide Auge waren im Innern frei von Auffälligkeiten. Also keine Metastasen oder Tumore im Augeninnern. Eine weitere Schwester holte mich und wollte auch meine Frau dabei haben. Sie ging mit uns in den Verbandsraum. Ich erkannte gleich am Formular, dass es sich um die Erklärung und Terminfestlegung für die Kryo handelte. Wir protestierten. Es war abgemacht, zunächst bis Dienstag oder Mittwoch auf den 2.Bericht zu warten. Die Schwester eilte hinaus, um Dr. Wasee zu fragen. Wir mussten aber dann zulassen, dass der Termin ins Buch eingetragen und mein Strichcode eingeklebt wurde, da sonst der Termin für mich vielleicht nicht mehr frei wäre.

Die Rechnung für die Sonographie betrug 400 Baht und für die Konsultation der beiden Ärztinnen 500 Baht. Hinzu kommen die üblichen 120 Baht, sodass ich insgesamt 1020 Baht, das sind keine 24 Euro, zu zahlen hatte.

Nicht nur, dass meine Frau müde und hungrig war, ihre Nerven waren aufs Äußerste gespannt und sie explodierte, als ich sie beim Verlassen des Krankenhauses nach dem weiteren Plan fragte. In solchen Fällen bin ich gewohnt zu schweigen. So aßen wir beim Fuji ohne Unterhaltung, was vielleicht anderen Gästen seltsam erschien. Irgendwann fangen wir schließlich immer wieder an, uns über Belangloses auszutauschen und über das ursächliche Geschehen wird nicht gesprochen.

Sie war unschlüssig, wohin wir gehen sollten. Einkaufen brächte ihr wohl etwas Freude zurück, und wenn es nur der Großmarkt Macro in Bangkapi sein sollte. Aber schließlich entschieden wir uns, nach hause zu fahren. Wir taten dies mit dem BTS nach Phayathai, wo der Airportlink endet und beginnt. Sie meinte zwar beim Umsteigen am Siam, wir könnten doch ins Paragon gehen, aber wir ließen es dann bleiben.

Zu hause suchte ich im Internet nach den Übersetzungen für die englischen Fachausdrücke des Berichtes und nach weiteren Informationen, die zu meinem Fall passten. Die Untersuchung hat am Montag, also zwei Tage nach der Entfernung der stets roten Wucherung stattgefunden, spricht aber von einer braunen Gewebeprobe. Schon dies und andere Darstellungen im Netz über Augentumore veranlassten mich, die Diagnose als falsch abzulehnen. Ich kam auch zu der Einsicht, dass eine Kryo nicht nötig sei und wohl mehr Schaden an meinem Auge anrichten würde. Ich beschloss, den Termin abzusagen. Aber zunächst mussten wir die Rückmeldung der Ärztinnen abwarten.