Montag, 6. Juni 2011

Behandlungsplan

Sie erreichten die Klinik im 11.Stock vor halb acht und sollten sie erst vier ein halb Stunden später wieder verlassen. Zur Anmeldung hatte H. einen handgeschriebenen Zettel auf den Nagel gesteckt, da er ja kein Terminformular hatte. Als bei der maschinellen Augeninnendruckmessung mittels dreier Luftstöße die Assistenten ein komisches Gesicht machten und einen Extrastoß gaben, wusste er, dass der Wert, der normalerweise zwischen 10 und 21 mmHg liegen sollte, überhöht war. Ein Blick auf die eingehefteten Zettel ließen Werte zwischen 26 und 30 erkennen.

Dr.Usanee fragte, wie es ihm gehe. Mit seiner Antwort, er sei ein bisschen nervös, gab sie sich nicht zufrieden. Sie kannte ihn und seine Krankheit mehr als sie in Worten zum Ausdruck brachte, aber ihre Reaktionen waren deutlich. Sie wiederholte ihre Frage. Er erwiderte, er sei ein wenig nervös, aber er sei glücklich mit der Ergebnis des Eingriffs und das Auge werde sichtlich jeden Tag besser, bis auf eine kleine Erhebung im Winkel. Allerdings sei der Innendruck sehr hoch. Ob dies nicht eine Nebenwirkung der Augentropfen sein könne, ebenso wie der hohe Blutdruck und die Schmerzen in Nacken, Schultern und Armen. Die Ärztin war nicht dieser Auffassung und begann gleich um ihn zu beruhigen mit der Messung durch ihren Tonometer, gefälligkeitshalber auch am rechten Auge. Nachdem die Assistentin betäubende Tropfen verabreicht hatte, ging die Messung ohne die leisesten Beschwerden von statten und ergaben rechts 19 und links 20. Sie werde ihm aber andere Tropfen verschreiben, die er dreimal täglich nehmen sollte. Die künstlichen Tränen dürfe er anwenden, wann immer er das Bedürfnis habe und er meine, es würde dem Auge gut tun. An einen Rhythmus sei er da nicht gebunden.

Sie berührte seinen Arm und sagte ihm, dass sie verstehe, wie schockierend die Diagnose gewesen sei und nun in sein Leben eingreife. Jetzt gehe es darum, die weitere Behandlung zu besprechen. Wie von ihm und dem pathologischen Bericht bereits verlangt, werde sie eine immunhistochemische Untersuchung in Auftrag geben. Diese werde 1-2 Tage dauern und 1500 Baht kosten. In der Email waren 2000 genannt. Er fragte sie nach den verwendeten Proteinen. Sie schrieb sie ihm auf. Vom Ergebnis werde sie ihn per Email unterrichten. Beiläufig fragte sie D, wie lange H. schon im Lande sei und auf welcher Basis. Sie wollte sich wohl ein Bild von seinen Verhätnissen machen. Immer wieder ließ sie sich von seinen Zwischenfragen und Bemerkungen unterbrechen. Er fragte sie auch, warum sie gleich nach der OP von einer 50/50 Chance sprechen konnte. Das habe sie erst nach dem Herausschneiden feststellen können, meinte sie flüchtig. Von den Tests erwarte sie drei Dinge: Aufschluss über den Typus der Zellen – der bösartigen Zellen, verbesserte sie sich -, deren Aggressivität und die weitere Therapieplanung. H. sagte, er glaube weiter nicht an ein bösartiges Melanom. Der Pickel könne viele andere Ursachen gehabt haben und außerdem bedeute Melanom, dass farbige Pigmentzellen beteiligt sein müssen. Sie erwiderte kurz, dass wenn eine Verletzung Ursache gewesen sei, man eine Narbe im Auge hätte sehen müssen, eine Virusinfektion schließe sie aus und es gäbe auch amelanotische Melanome. Warum sie so sicher sein könne, dass es sich um ein malignes Melanom handle? Weil zwei Ärtinnen und zwei Pathologinnen zu dieser Auffassung gelangt sind. Wegen seinen Befürchtungen hinsichtlich der Kryo wurde er auf das gleich stattfindende Gespräch mit Dr.Wasee verwiesen, zu dem sie auch hinzukommen werde. Sie zuckte kurz, als H. sein Einverständnis zur Kryo erklärte: „wenn es denn notwendig sei.“ Sie machte Aufnahmen vom Auge und zeigte sie auf dem Monitor. H. kam sein vergrößertes Augenbild nicht so schön vor wie er es sonst im Spiegel sah. Er bat um die Fotos und die Ärztin streckte die Hand nach der CD aus. Er sollte sie später erhalten.

Die Ärztin und ihr Patient wussten beide um die weiteren Schritte. Eine Röntgenuntersuchung des Brustkorbs und eine Ultraschalluntersuchung des Oberbauches sollten Anzeichen von Krebsbefall in Lunge und Leber feststellen. H. verweigerte sich. Dies würde ihn nur noch mehr herunter ziehen. Er könnte vielleicht mit der Krankheit leben, aber er wollte nicht dauernd mit ihr konfrontiert sein und laufend weiteren Untersuchungen und Therapien ausgesetzt sein.

Während er draußen darauf wartete, zu Dr.Wasee vorgelassen zu werden, fragte er D. nach ihrer Meinung. Sie empfahl ihm, mit allem, was die Ärztinnen vorschlugen, einverstanden zu sein. Sie war von deren Aufrichtigkeit und Sachkenntnis überzeugt. Sie hatte für beide zwei Flaschen deutschen Weines mitgebracht und sie ihnen überreicht, als deren Assistentinnen kurz aus dem Raum waren. D. war überhaupt an diesem Vormittag recht geduldig.

Also erklärte H. Dr. Wasee gleich, dass er mit allen Therapiemassnahmen einverstanden sei. Dr.Usanee ließ ihre Patientin allein und kam durch die Hintertür. Gemeinsam wurde als Termin für die Kryo – Kryo-Therapie, nicht Kryo-Chirurgie, betonte Dr.Wasee – der Samstag ausgesucht. Er solle sich um acht oder zehn vor acht vor dem bekannten OP-Raum einfinden und um halb neun würde sie anfangen, durch wiederholtes Einfrieren und Auftauen die womöglich noch vorhandenen Tumorzellen zu zerstören. Dies würde fünfzehn Minuten in Anspruch nehmen und Dr.Usanee würde auch anwesend sein. Nach 2-3 Stunden könne er den Verband vom Auge wieder entfernen. Das Auge werde ein paar Tage gerötet sein. H.s Bitte, ihn doch auf einem genügend breiten OP-Tisch liegen zu lassen, wurde mit Lachen und einem Versprechen quittiert, soweit dies möglich sei.

Die anderen beiden Untersuchungen könnten ebenfalls an diesem Samstag stattfinden. Eine Schwester kam hinzu und wollte am Telefon abklären, ob der Termin möglich sei. H. und D. wurden gebeten zu warten, bis Dr.Usanee ihnen die Überweisungen ausstellen würde. Sie erfuhren, dass das Röntgen heute noch im 4.Stock stattfinden werde und dort sollten sie sich den Termin für die Ultraschall geben lassen. Sie erhielten die Unterlagen für die Kryo.

Zunächst mussten sie auf den Aufruf an der Kasse warten. Sie staunten, als sie neben den üblichen 120 Baht und den 70 Baht für die neuen Augentropfen nur 300 Baht für das Konsultieren der beiden Ärztinnen bezahlen mussten und fragten nach der Vorausrechnung für die IHC. Der Kassenwart eilte selbst davon und nach kurzer Wartezeit erhielten sie die Rechnung mit beigefügter Kopie der Anforderung, auf der auch die drei zu verwendenden Standartproteine genannt waren: 60 Baht plus 12 Baht Service Charge.

Sie fuhren in den 4.Stock, bereit für das Röntgen. Allerdings meinte die eigenartige Schwester, die Termine sollten zusammengelegt werden und schlug den Dienstag Abend vor. Zuerst mussten die zwei nochmals nach oben und sich auf dem Antragsformular für den Ultraschall Diagnose und anfordernden Arzt nachtragen lassen. Das ging rasch. Eine Schwester kam ihnen nachgelaufen und richtete aus, dass wegen Problemen am PC die Bilder per Email geschickt werden würden. So muss H. also am Dienstag um 18 Uhr auf dem 4.Stock erscheinen, wobei er ab 12 Uhr nichts mehr essen und trinken darf. Die Kosten stehen auch gleich auf dem Terminzettel: 330 Baht für X-ray und 1200 Baht für Ultrasound.

Endlich konnten sie das Krankenhaus verlassen und wieder ins Fuji zum essen gehen. H. hatte das starke Gefühl von Entgegenkommen. Nicht nur durch die Ärztinnen in menschlicher und finanzieller Form. Das Leben kam ihm entgegen und er kam dem Leben entgegen in allen seinen Formen.

Sie fuhren mit der BTS zum Paragon, wo eine Orchideenschau stattfand. Als D. jedoch bemerkte, dass nur prämierte Blumen ausgestellt waren und keine zum Kauf angeboten wurden, verlor sie sofort das Interesse. Nach einem kurzen Bummel durch die Lebensmittelabteilung, wo D. Preise verglich und Salat, sauren Fruchtgummi und Innereien kaufte, - sie wollte vielleicht mal wieder Saure Kutteln kochen -, fuhren sie nach hause.

H. begann gleich am PC seine Nachforschungen zu den Augentropfen, zu den immunhistochemischen Tests und wieder zu malignen Melanomen. Er las viel über verschiedene Krebsarten, Diagnosemöglichkeiten, Krankheitsverläufen und Therapieformen. Er stöberte in Krebs-Foren. Bis er sich sagte: jetzt ist es genug. Aber auch die Seiten, die er sonst gewöhnlich mehrmals täglich besuchte, Nachrichtenseiten und Foren und Blogs, hatten plötzlich ihre Anziehungskraft verloren. All das hatte keine Bedeutung mehr. Die Seiten und nun viele andere Dinge waren mit keinem Verlangen, mit keiner Befriedigung, mit keinem Ich mehr verbunden. Die 1.Person hatte die Bedeutung verloren, war nicht mehr da. H. erinnerte sich an eine Frau, eine Prophetin, die es ebenfalls vermied, die 1.Personenform zu benutzen. Dies war keine Resignation, kein Ausblenden der schmerzhaften Wirklichkeit, kein Psychotrick, sondern das Ablegen einer Last, eine Befreiung. Vielleicht tun ihm auch deshalb die Schultern nicht mehr weh.

Er schlief gut in dieser Nacht. Bis auf eine kurze Zeit, in der er einen Brief an die Ärztinnen aufsetzte und um Offenlegung ihrer Kenntnisse und ihrer Ansichten über den weiteren Verlauf bat. Um sein Auge, dessen Genesungsfortschritt er bisher häufig im Spiegel verfolgte, kümmert er sich nicht mehr. Er darf ja wieder duschen und muss es nachts nicht mehr abdecken. Er wird die anstehenden Untersuchungen und die Behandlung in dieser Woche ohne Klagen und Zweifel durchstehen. Nach Ablauf diesr Woche wird Krebs kein großes Thema mehr sein. H. hat sich vorgenommen, manches in seinem Leben anders zu gestalten. Weniger Zeit am PC, mehr Spaziergänge oder Schwimmen im Pool. Sein gesunkener Hunger und Appetit wird der Gewichtsreduzierung und somit auch dem Blutdruck dienlich sein. Notwendig ist ein offenes Gespräch mit D. und eine gemeinsame Lebensplanung. Wenn dies zu seiner Schulung und Vervollkommnung gehört, ist es gut. Gottes Wille geschehe!






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