Samstag, 9. Oktober 2010

Oh mein Gott! Vom Beten

Jeden Nachmittag läutete es und sogleich ruhte jede Tätigkeit. Perlenschnüre wurden hervorgeholt und man sah Gruppen von Knaben durch die breiten Gänge wandeln und wenn es nicht regnete über die Höfe schreiten, angeführt von Männern in schwarzen Talaren. Um 16 Uhr war „Rosenkranz“ im Internat. Ich konnte dem nichts abgewinnen und zog mich, als ich so 16 war, gerne in einen Raum hinter der Orgel in der Barockkirche zurück. Auf einem Betstuhl kniend flehte ich Gott an, mich ihn sehen zu lassen. Räucherkerzen unterstützten meine private Andacht.

In jenen Tagen faszinierte mich auch die Sage von einem alten Tempel in der Wüste eines fernen Landes. Hinter einem Vorhang war dort das Bildnis des wahren Gottes verborgen. Wer es allerdings wagte, den Schleier zu heben, konnte Verstand oder Leben verlieren. Nach Jahrzehnten des Suchens und Ringens bin ich überzeugt, den Tempel gefunden zu haben. Mein jugendliches Sehnen hat sich erfüllt. Dabei ist es so einfach.

Ich behaupte, dass die meisten Menschen nicht zu Gott beten sondern lediglich zu der Vorstellung eines fernen Gottes oder Götzens, die sie unreflektiert übernommen haben. Dass ihre Gebete über die Anziehungskraft ihres Egos nicht hinausgelangen und im Orbit ihrer Ignoranz kreisen. An einer Antwort ihres Gottes sind sie nicht interessiert. Manche reden und schreiben über Gott und versuchen andere von ihrem Wissen zu überzeugen. Sie haben Doktortitel in Theologie und Philosophie. Doch eines Tages werden sie wie die professionellen Gottesanbeter zu hören bekommen: „Ihr ruft nun: Herr, Herr!, doch Ich kenne euch nicht. Ihr habt Nietzsche zitiert und die Apostel und Kirchenlehrer, aber auf Meine Worte in euren Herzen habt nicht gehört!“

Bei den Urchristen im Universellen Leben habe ich gelernt, dass man vom Verstandesgebet zum Herzensgebet und weiter zum Seelengebet gelangen soll. Ich habe erlebt, wie wundervoll es ist, wenn aus der Seele von selbst Worte empor steigen, Worte voll Jubel und Dankbarkeit. Doch erst jetzt erfasse ich, was Beten wirklich sein kann, jetzt da der Abstand zwischen mir und Gott geringer wird. Es ist kein großes Verstehen und Bemühen notwendig, nur eine Erkenntnis. Und ich glaube, dass diese Erkenntnis, dieses Bewusstsein den zukünftigen Menschen von dem heutigen unterscheiden wird. In diesem Bewusstsein lebte und lehrte Jesus und es wird die Grundlage für das beginnende Reich des Friedens sein. Wer es versteht, begreift auch, dass es Jesus fern lag darüber zu sprechen oder gar zu schreiben, in wie vielen Tagen Gott die Welt erschaffen hat oder wie das Verhältnis von Vater, Sohn und Heiliger Geist aussieht. Er verlangte nicht die Verehrung Jahwes, sondern wollte den Weg in das Reich Gottes zeigen. Erst auf das Drängen der Jünger lehrte er ein Gebet aus Worten. Das Vater Unser bete ich oft, doch jedesmal anders, jedesmal mit anderen Empfindungen unter den einzelnen Teilen. Es ist ein zeitloses und prophetisches Gebet, das die Macht hat, uns selbst zu verändern.

Wie soll ich nun ausdrücken, wovon ich spreche? Ich bringe es mal auf die Formel: Gott und Gegenwart sind eins. Gott ist nicht fern, weder räumlich noch zeitlich. Wenn ich mir des gegenwärtigen Augenblicks bewusst werde, bringe ich mich in das Bewusstsein Gottes. Mein Atemrhythmus ändert sich. Ich nehme den gegenwärtigen Gott als das große, kosmische Du wahr. Meine Gedanken liegen offen vor ihm. Da ist kein Platz mehr für ausgefeilte Gebetsformeln. Es bleibt ein Stammeln. Oh mein Gott! Mein himmlischer Vater! Und es kommen Empfindungen, die so tief und so echt sind und die mit meinem wahren Wesen verknüpft sind. Empfindungen von Reue und Demut, der Bitte um Vergebung, der Geborgenheit und des Vertrauens, des Geliebtseins und von überströmender Liebe. Es ist keine statische Verehrung, es ist ein Wachsen, ein Reinwerden. Etwas ganz Intimes, mit Worten nur unzureichend wiederzugeben.

Wenn auch die Geschäfte des Tages mich nach außen ziehen, so komme ich immer häufiger in diese göttliche Gegenwart zurück. Und ich knüpfe da an, wo ich aufgehört habe. Es ist immer Gegenwart. Jesus lebte ganz in dieser Gegenwart des Vaters und die neue Generation Mensch wird es auch. Ihr Handeln ergibt sich aus diesem Bewusstsein, ein Leben in Harmonie mit Gott, Natur und Mitmensch erwächst, ein Leben wie die Lilien auf dem Felde. Sein Reich kommt, das tägliche Brot gibt Gott uns heute. Das Leben wird zum Gebet.

Immer und überall kann ich mich dem gegenwärtigen kosmischen Du zuwenden, beim Essen, beim Arbeiten, im Gespräch mit Anderen. Wenn es auch das Ziel ist, ein Leben als vollkommener Mensch zu erreichen wie Jesus es vorgelebt hat, so muss ich mich jetzt doch nicht heiligmäßig geben. Ich darf Worte gebrauchen und kleine Dinge tun, die nicht auf mein Inneres schließen lassen. Fanatismus und Scheinheiligkeit gibt es genug. Die Nähe zu meinem Vater kann mir nichts und niemand nehmen, nicht einmal ich selbst.

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